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Urteil : Offene Videoüberwachung – Verwertungsverbot : aus der RDV 6/2023, Seite 382-386

(BAG, Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22 –)

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Relevanz für die Praxis

Das Bundesarbeitsgericht beschäftigt sich in der vorliegenden Entscheidung mit der Frage, ob sich aus der DS-GVO und der ZPO ein Verwertungsverbot für Aufzeichnungen aus einer Videoüberwachung ergibt, die gegen Vorgaben des Datenschutzrechts verstößt. Der Senat hält es nicht für zwingend geboten, solche Aufzeichnungen unberücksichtigt zu lassen, wenn mit ihrer Hilfe ein vorsätzliches vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegt werden soll. In diesem Fall darf das entscheidende Gericht daher auch Aufzeichnungen verwerten, die ihm erst nach Ablauf der Höchstspeicherdauer vorgelegt werden. Eine anderslautende Betriebsvereinbarung steht einer Verwertung ebenfalls nicht entgegen.

Das Bundesarbeitsgericht sichert damit die Möglichkeiten des Arbeitgebers, vorsätzliches Fehlverhalten eines Arbeitnehmers vor Gericht zu beweisen. Für die betriebliche Praxis ist indes auch nach dieser Entscheidung zu betonen, dass schon zur Vermeidung von Bußgeldern bei der Videoüberwachung am Arbeitsplatz auf die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Vorgaben zu achten ist.

  1. In einem Kündigungsschutzprozess besteht nach Maßgabe der Datenschutz-Grundverordnung und der Zivilprozessordnung grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht.
  2. Den Betriebsparteien fehlt die Regelungsmacht, ein über das formelle Verfahrensrecht der Zivilprozessordnung hinausgehendes Verwertungsverbot zu begründen, oder die Möglichkeit des Arbeitgebers wirksam zu beschränken, in einem Individualrechtsstreit Tatsachenvortrag über betriebliche Geschehnisse zu halten.

Aus den Gründen:

2. Das Landesarbeitsgericht hat – der Sache nach – dem vorrangigen Antrag gegen die außerordentliche Kündigung rechtsfehlerhaft mit der Begründung entsprochen, es mangele an einem wichtigen Grund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB. […]

d) Angesichts eines unzureichenden Bestreitens des Vorwurfs der Nichtableistung der Mehrarbeitsschicht in Täuschungsabsicht durch den Kläger hätte das Landesarbeitsgericht nicht nur ein Beweiserhebungs-, sondern vorrangig ein Sachvortragsverwertungsverbot (zu dessen Wirkung vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 16, BAGE 163, 239) betreffend das Vorbringen der Beklagten prüfen müssen, aus dem sie das Fehlen einer Arbeitsleistung des Klägers am 2. Juni 2018 ableitet. Indes greift weder ein Sachvortragsnoch ein Beweiserhebungsverbot ein. Das Berufungsgericht musste vielmehr nach Maßgabe von Art.  6 Abs.  1 UAbs.  1 Buchst. e) i.V.m. Abs.  3 und ggf. Abs.  4 i.V.m. Art.  23 Abs.  1 Buchst. f) und j) DS-GVO i.V.m. § 3 BDSG sowie den Vorgaben der Zivilprozessordnung (§§ 138, 286, 371 ff. ZPO) nicht nur das Vorbringen der Beklagten über das vorzeitige Verlassen des Werksgeländes durch den Kläger seiner Entscheidung zugrunde legen, sondern ggf. auch die betreffende Bildsequenz aus der Überwachung an Tor 5 in Augenschein nehmen.

aa) Die Frage, ob die Gerichte für Arbeitssachen erhebliches Prozessvorbringen der Parteien und ggf. deren Beweisantritte bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen dürfen bzw. müssen, beantwortet sich nach Inkrafttreten der DS-GVO nach deren Vorschriften. Die DS-GVO regelt die Zulässigkeit von Datenverarbeitungen auch im Verfahren vor den nationalen Zivilgerichten.

(1) Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. e) DS-GVO ist die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig, wenn sie für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. Gemäß Art. 6 Abs. 3 S. 1 Buchst. b) DS-GVO kann die Rechtsgrundlage für entsprechende Verarbeitungen durch das Recht des Mitgliedstaats festgelegt werden, dem der Verantwortliche unterliegt. Dieses muss nach Art. 6 Abs. 3 S. 4 DS-GVO ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen. Davon ist auszugehen, wenn die Zivilgerichte (EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 32) – zu denen nach unionsrechtlichem Verständnis auch die Gerichte für Arbeitssachen gehören (zu einem Kündigungsschutzprozess als zivilrechtliche Streitigkeit i.S.d. Brüssel Ia-VO vgl. BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 16) – die ihnen durch das nationale Recht übertragenen gerichtlichen Befugnisse ausüben (EuGH 4. Mai 2023 – C-60/22 – [Bundesrepublik Deutschland] Rn. 73).

(2) Erfolgt diese Verarbeitung zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem die Daten erhoben wurden, ist das nach Art. 6 Abs. 4 DS-GVO i.V.m. deren Erwägungsgrund 50 insbesondere zulässig, wenn die zweckändernde Verarbeitung auf dem Recht eines Mitgliedstaats beruht und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Art. 23 Abs. 1 DS-GVO genannten Ziele darstellt. Ausweislich des Erwägungsgrundes 50 ist der Verantwortliche zum Schutz dieser wichtigen Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses berechtigt, die personenbezogenen Daten ungeachtet dessen weiterzuverarbeiten, ob sich die Verarbeitung mit den Zwecken, für die die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbaren ließ (EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 33). Zu den in Art. 6 Abs. 4 DS-GVO normierten Zielen gehören nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. f) DS-GVO der „Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und der Schutz von Gerichtsverfahren“, wobei dieses Ziel nicht nur den Schutz der Rechtspflege vor internen oder externen Eingriffen, sondern auch eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleistet. Darüber hinaus stellt nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. j) DS-GVO die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche ebenfalls ein Ziel dar, das eine Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als demjenigen rechtfertigen kann, zu dem sie erhoben wurden (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 38). Insoweit ist es unerheblich, ob deren Verarbeitung auf einer materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Vorschrift des nationalen Rechts beruht (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 40). Den vorstehenden unionsrechtlichen Vorgaben genügen – was zu beurteilen der Sache der deutschen Gerichte ist (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 39, 53) – die §§ 138, 286, 355 ff. ZPO. Diese Vorschriften des nationalen Rechts verpflichten die Parteien zu einem substanziierten und wahrheitsgemäßen Vorbringen und das Gericht zu dessen vollständiger Berücksichtigung und ggf. einer tatrichterlichen Würdigung auch im Hinblick auf eine etwaige Beweisaufnahme. Sie stellen nach Art. 6 Abs. 3 S. 1 Buchst. b) DS-GVO erforderliche Rechtsgrundlagen für entsprechende Verarbeitungen im gerichtlichen Verfahren dar.

(3) Die – ggf. zweckändernde – Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch das Gericht kommt selbst dann in Betracht, wenn die vor- oder außergerichtliche Erhebung dieser Daten durch eine Prozesspartei sich nach Maßgabe der DS-GVO oder des nationalen Datenschutzrechts – wie vom Landesarbeitsgericht angenommen – als rechtswidrig darstellt. Dies folgt ohne das Erfordernis eines darauf bezogenen Vorabentscheidungsverfahrens des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art.  267 Abs.  3 AEUV in aller Eindeutigkeit (acte clair) aus Art. 17 DS-GVO. Nach dessen Abs. 1 Buchst. d) sind zwar personenbezogene Daten zu löschen, wenn sie unrechtmäßig verarbeitet wurden, wozu nach Art. 4 Nr. 2 DS-GVO auch ihre rechtswidrige Erhebung zählt. Von dem Recht auf Löschung unrechtmäßig verarbeiteter Daten besteht nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. e) DS-GVO jedoch insoweit eine Ausnahme, wie die weitere Verarbeitung der fraglichen Daten zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen „erforderlich“ ist. Dazu hat der Gerichtshof klargestellt, dass das Recht auf Schutz personenbezogener Daten kein uneingeschränktes Recht ist, sondern – wie in Erwägungsgrund 4 der DS-GVO ausgeführt – im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden muss (EuGH 24. September 2019 – C-136/17 – [GC ua.] Rn. 57; Bäcker, in: Kühling/Buchner, DS-GVO, 3. Aufl., Art. 13 Rn. 68). Selbst wenn Art. 17 Abs. 3 Buchst. e) DS-GVO keine Rechtsgrundlage für die weitere Verarbeitung in diesen Fällen darstellte, läge der notwendige Erlaubnistatbestand in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. e) i.V.m. Abs. 3 und ggf. Abs. 4 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Buchst. f) und j DS-GVO i.V.m. § 3 BDSG i.V.m. den oben genannten Normen der Zivilprozessordnung (§§ 138, 286, 355 ff. ZPO). bb) Der Senat muss im Streitfall nicht abschließend darüber befinden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein verfahrensrechtliches Verwertungsverbot für Tatsachen eingreifen kann, von denen ein Arbeitgeber durch eine unrechtmäßige Datenverarbeitung Kenntnis erlangt hat. Ein Sachvortrags- oder Beweisverwertungsverbot kommt – gerade auch im Geltungsbereich der DS-GVO – nur in Betracht, wenn die Nichtberücksichtigung von Vorbringen oder eines Beweismittels wegen einer durch Unionsrecht oder Art.  2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition des Arbeitnehmers zwingend geboten ist. Dies ist bei einer von ihm vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung, die von einer offenen Überwachungsmaßnahme erfasst wurde, regelmäßig nicht der Fall.

(1) Der Senat kann zugunsten des von einer offenen Videoüberwachung betroffenen Arbeitnehmers unterstellen, dass – obwohl es eher zweifelhaft erscheint – das Merkmal der Erforderlichkeit in Art. 17 Abs. 3 Buchst. e) DS-GVO eine volle Verhältnismäßigkeitsprüfung bedingt. Da die Vorschrift andernfalls leerliefe und Art. 47 Abs. 2 GRC das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und insbesondere auf ein faires Verfahren verbürgt, wonach die Parteien eines Zivilprozesses grds. in der Lage sein müssen, ihr Rechtschutzziel hinreichend zu begründen und unter Beweis zu stellen (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 53), könnte sich die gerichtliche Verarbeitung von rechtswidrig durch den Arbeitgeber erhobenen personenbezogenen Daten des klagenden Arbeitnehmers jedenfalls nur als unangemessen (unverhältnismäßig im engeren Sinn) darstellen, wenn sich die Überwachungsmaßnahme nach Unionsrecht als schwerwiegende Verletzung von Art. 7 und Art. 8 GRC erwiese und andere mögliche Sanktionen für den Arbeitgeber (z.B. Schadenersatz nach Art. 82 DS-GVO und Verhängung von Geldbußen nach Art. 83 DS-GVO) gänzlich unzureichend wären.

(2) Andererseits kann – was aber ebenfalls fraglich erscheint – zugunsten des klagenden Arbeitnehmers unterstellt werden, dass sich unter Geltung von Art.  17 Abs.  3 Buchst. e) DS-GVO in verfassungskonformer Auslegung des nationalen Verfahrensrechts ausnahmsweise das Verbot für das Gericht ergeben kann, Sachvortrag oder Beweismittel zu verwerten, die im Zug einer das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) des Arbeitnehmers verletzenden Datenverarbeitung vom Arbeitgeber erlangt wurden. Ein solcher Tatbestand führte dazu, dass es an einer Rechtsgrundlage im mitgliedstaatlichen Verfahrensrecht i.S.v. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. e) i.V.m. Abs. 3 S. 1 Buchst. b) DS-GVO fehlte (Rn. 24 f.). Dies hätte wiederum zur Folge, dass auch eine unionsrechtliche Ermächtigung für die Datenverarbeitung durch ein Gericht nicht vorhanden wäre.

(a) Ein Verwertungsverbot kommt in Betracht, wenn dies wegen einer durch das Grundgesetz geschützten Rechtsposition einer Prozesspartei zwingend geboten ist. Das setzt in aller Regel voraus, dass die betroffenen Schutzzwecke des bei der Gewinnung verletzten Grundrechts der Verwertung der Erkenntnis oder des Beweismittels im Rechtsstreit entgegenstehen und deshalb die Verwertung selbst einen Grundrechtsverstoß darstellen würde. Dies ist der Fall, wenn das nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Grundrechte gebundene Gericht ohne Rechtfertigung in eine verfassungsrechtlich geschützte Position einer Prozesspartei eingriffe, indem es eine Persönlichkeitsrechtsverletzung durch einen Privaten perpetuierte oder vertiefte. Jenseits der sie treffenden Pflicht, ungerechtfertigte Grundrechtseingriffe zu unterlassen, können die Gerichte allenfalls dann wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gehalten sein, einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Private aktiv zu begegnen und Sachvortrag oder Beweisantritte einer Partei aus Gründen der Generalprävention außer Acht zu lassen, wenn andernfalls die verletzte Schutznorm in den betreffenden Fällen leerliefe (BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 14, BAGE 163, 239).

(b) Ein auf Art.  2 Abs.  1 i.V.m. Art.  1 Abs.  1 GG gestütztes Verwertungsverbot scheidet – selbst unter Berücksichtigung der vom Senat zugunsten des betroffenen Arbeitnehmers unterstellten Vorgaben aus Art. 17 Abs. 3 Buchst. e) DS-GVO – regelmäßig in Bezug auf solche Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung aus, die vorsätzlich begangene Pflichtverletzungen zulasten des Arbeitgebers zeigen (sollen), ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit der gesamten Überwachungsmaßnahme ankäme.

(aa) Die Beeinträchtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung eines Arbeitnehmers durch eine offene Überwachungsmaßnahme wird zum einen durch die Verhaltenshemmung (psychischer Anpassungsdruck) und zum anderen durch die Verdinglichung des gleichwohl gezeigten Verhaltens samt der darin liegenden Gefahr der Verbreitung der Aufzeichnung bewirkt. Anders als bei einer verdeckten Überwachungsmaßnahme geht es bei einer für ihn erkennbaren Überwachung nicht um den Schutz vor einer (heimlichen) Ausspähung, sondern vielmehr „nur“ um Entfaltungs-, Dokumentations- und Verbreitungsschutz. Ein Verwertungsverbot kommt lediglich in Betracht, wenn und soweit der Arbeitnehmer bezogen auf diese Zwecke schutzwürdig ist. Hieran fehlt es, wenn der Arbeitgeber durch die vorhandenen Daten von einer vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung Kenntnis erlangt und auf diese reagieren will. Der Arbeitnehmer wurde durch die vorangegangene Überwachung und Aufzeichnung seines Verhaltens nicht daran gehindert, selbstbestimmt zu handeln. Er hat sich vielmehr – trotz seiner Kenntnis von der Überwachung – für die Begehung einer Vorsatztat zulasten des Arbeitgebers entschieden. Zwar wurde dieses Verhalten dokumentiert und damit eine Verbreitung ermöglicht. Doch muss der Arbeitnehmer diese – von ihm angesichts der Offenheit der Überwachung erkennbare – Folge hinnehmen, soweit die betreffende Bildsequenz dazu verwendet wird, den „Tatbeweis“ in einem Kündigungsschutzprozess zu führen, also lediglich der Durchsetzung rechtlich geschützter Belange des Arbeitgebers dienen soll (vgl. EGMR 27. Mai 2014 – 10764/09 – [De la Flor Cabrera/Spanien]; Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 60). Das grundgesetzlich verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann nicht zu dem alleinigen Zweck in Anspruch genommen werden, sich der Verantwortung für vorsätzlich rechtswidriges Handeln zu entziehen (vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 30, BAGE 163, 239; BGH 24. November 1981 – VI ZR 164/79 – zu II 2 b der Gründe). Datenschutz ist kein Tatenschutz.

(bb) Aspekte der Generalprävention könnten allenfalls dann zu einem Verwertungsverbot in Bezug auf vorsätzliches Fehlverhalten des Arbeitnehmers führen, wenn sich die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers als solche trotz ihrer offenen Durchführung als schwerwiegende Verletzung des durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Rechts darstellt (denkbar z.B. bei offener Überwachung von Toiletten oder Umkleideräumen oder offener Dauerüberwachung ohne Rückzugsmöglichkeit, vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 35, BAGE 163, 239). Das entspricht angesichts der zugunsten des Arbeitnehmers unterstellten Vorgaben in Art. 17 Abs. 3 Buchst. e) DS-GVO i.V.m. Art. 7 und Art. 8 GRC (Rn. 28) mit hinreichender Deutlichkeit dem Unionsrecht, was der Senat ohne ein darauf bezogenes Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheiden kann.

cc) Ein Verbot, inkriminierte Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung in Augenschein zu nehmen, besteht schließlich nicht deshalb, weil sie womöglich gar kein Verhalten des Arbeitnehmers zeigen, das eine vorsätzliche Verletzung der Rechtsgüter des Arbeitgebers darstellt oder doch auf eine solche hindeutet. Da Art.  103 Abs.  1 GG und Art.  47 Abs. 2 GRC grds. gebieten, einem erheblichen Beweisantritt nachzugehen, darf eine Beweiserhebung nicht auf die bloße Möglichkeit ihrer Grundrechtswidrigkeit hin unterbleiben. Auch insofern bestehen für den betroffenen Arbeitnehmer ausreichende andere Schutzmechanismen. Ergibt die Inaugenscheinnahme „rein gar nichts“ i.S.d. Arbeitgebers, verliert dieser nicht nur den Prozess. Vielmehr kann in der weiteren Verarbeitung – eindeutig – irrelevanter Sequenzen und deren Einführung in einen Rechtsstreit eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung liegen, für die er unter den Voraussetzungen von §  823 Abs.  1 BGB i.V.m. Art.  2 Abs.  1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG eine Geldentschädigung (BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 36, BAGE 163, 239) oder nach Art. 82 DS-GVO immateriellen Schadenersatz schuldet (EuGH 4. Mai 2023 – C-300/21 – [Österreichische Post]).

dd) Im vorliegenden Rechtsstreit waren die – vermeintlichen – Erkenntnisse der Beklagten aus der Videoüberwachung an Tor 5 zum Werksgelände ebenso zu berücksichtigen, wie die Bildsequenz, die den Kläger beim vorzeitigen Verlassen des Werksgeländes zeigen soll, ggf. als Beweismittel in Augenschein zu nehmen wäre.

(1) Es handelte sich um eine offene, durch zumindest ein Piktogramm ausgewiesene und auch sonst nicht zu übersehende Videoüberwachung. Es ist rechtlich ohne Bedeutung, dass das Piktogramm – über das Monitoring hinaus – nicht gesondert auf eine Aufzeichnung und Speicherung der Bildsequenzen hingewiesen hat und die Beklagte ihren Informationspflichten aus Art.  13 Abs.  1 und Abs.  2 DS-GVO möglicherweise nicht vollständig nachgekommen sein mag. Der Kläger musste jedenfalls damit rechnen, dass auch eine Aufzeichnung und Speicherung seines „Passierverhaltens“ erfolgen könnte. Er wurde nicht heimlich „ausgespäht“, sondern hat sich einer Erfassung seiner möglichen vorsätzlichen Pflichtverletzung „sehenden Auges“ ausgesetzt. Anders hätte es allenfalls gelegen, wenn die Beklagte ihn in Bezug auf die Erfassung und Speicherung von vorsätzlichen Pflichtverletzungen „in Sicherheit gewiegt“ hätte (vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 44, BAGE 163, 239). Dafür ist indes nichts festgestellt. Anderes folgt nicht aus dem – streitigen und überdies unsubstantiierten – Vorbringen des Klägers, dem Betriebsrat sei mitgeteilt worden, dass die Videoüberwachung dazu bestimmt sei, Dienstfremden und Mitarbeitern, die Probleme mit ihrem Werksausweis hätten, die Möglichkeit zu geben, über eine Klingel den Werkschutz zu kontaktieren, damit dieser das Werkstor aus der Ferne öffnen könne. Dem lässt sich schon nicht entnehmen, dass dies dem Betriebsrat als alleiniger Zweck der Videoüberwachung – zumal auch des Ausgangs vom Werksgelände – eröffnet worden sei. Dessen ungeachtet ist weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass die Beklagte dem Betriebsrat erklärt hat, es erfolge ein reines Videomonitoring bzw. die Aufzeichnungen der Kameras sollten nicht ggf. zur Aufdeckung von vorsätzlichen Pflichtverletzungen genutzt werden.

(2) Zwar hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt, welchen genauen Erfassungsbereich die Kameras an Tor 5 zum Werksgelände hatten. Doch kann das Vorliegen einer zu einem ständigen Anpassungs- und Leistungsdruck führenden Dauer- oder Totalüberwachung ausgeschlossen werden. Die Arbeitnehmer wurden im Wesentlichen nur beim Durchschreiten des Tores – bei Betreten des Werksgeländes zudem beim Vorhalten ihres Werksausweises vor das Kartenlesegerät – für eine kurze Zeit gefilmt. Ihre Intim- oder Privatsphäre wurde dabei nicht tangiert. Eine schwere Grundrechtsverletzung folgt auch nicht daraus, dass die Beklagte möglicherweise lange mit der erstmaligen Sichtung des Bildmaterials zugewartet und es bis dahin vorgehalten hat (vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 30, 33, BAGE 163, 239).

(3) Mit der Verwertung der betreffenden Bildsequenz im vorliegenden Rechtsstreit ist keine Zweckänderung i.S.v. Art. 6 Abs.  4 DS-GVO verbunden. Der maßgebliche abstrakte Zweck der Datenerhebung (Schutz der berechtigten Interessen der Beklagten und widrigenfalls Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche) stimmt mit dem Zweck der Datenverarbeitung im vorliegenden Verfahren (Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche) überein (vgl. Schulz, in: Gola/Heckmann, DS-GVO/BDSG, 3. Aufl., Art. 6 DS-GVO Rn. 135). Selbst wenn eine Zweckänderung vom Eigentums- hin zum Vermögensschutz vorläge, ergibt die – vom nationalen Gericht vorzunehmende (vgl. EuGH 2. März 2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 48) – Abwägung der wechselseitigen Interessen, dass die Grundrechtspositionen des Klägers aus Art. 7 und Art. 8 GRC nicht das durch Art. 47 Abs. 2 GRC garantierte, in concreto besonders hoch zu bewertende Recht der Beklagten auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber einem – vermeintlich – vorsätzlichen Fehlverhalten ihres Arbeitnehmers überwiegen. […]

VI. Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sind folgende weitere Hinweise veranlasst: […]

f) Anders als vom Landesarbeitsgericht angenommen, ist es der Beklagten nicht aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen verwehrt, Daten, die sie mithilfe der elektronischen Anwesenheitserfassung gewonnen hat, in das Verfahren einzuführen.

aa) Das Berufungsgericht hat seine Auffassung auf eine am 17. Oktober 2007 für das Werk H abgeschlossene Betriebsvereinbarung über die Einführung einer elektronischen Anwesenheitserfassung (BV 2007) gestützt, wonach „keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolgt“. Durch den Abschluss dieser Betriebsvereinbarung, deren weiterer Inhalt sich aus dem angefochtenen Urteil allerdings nicht erschließt, habe die Beklagte den Kläger im Sinne einer „berechtigten Privatheitserwartung“ in Sicherheit gewiegt. Dies gelte selbst für den Fall, dass der Betriebsrat der Auswertung der Kartenlesegeräte nachträglich zugestimmt habe, da die Betriebsvereinbarung den Arbeitnehmern – so das Landesarbeitsgericht – „eigene Rechte“ einräume.

bb) Es kann unterstellt werden, dass die BV 2007 die vom Landesarbeitsgericht herangezogene Regelung enthält. Diese konnte in Bezug auf die dem Kläger vorgeworfene Arbeitszeitmanipulation jedoch keine berechtigte Privatheitserwartung begründen oder den Kläger bezüglich der Begehung und Ahndung seiner vermeintlichen Arbeitszeitmanipulation „in Sicherheit wiegen“ (vgl. Rn. 36).

(1) Die Vorinstanz ist begründungslos davon ausgegangen, dass durch die BV 2007 auch eine vorsätzliche Pflichtverletzung der rechtlichen Ahndung entzogen werden soll. Eine solche Auslegung begegnet schon deshalb Bedenken, weil die Vereitelung von Sanktionen auch für schwere Pflichtverletzungen kaum mit dem in § 2 Abs. 1 BetrVG genannten „Wohl des Betriebs“ als Ziel der Zusammenarbeit zwischen den Betriebsparteien vereinbar wäre. Von der Regelung in der vom Berufungsgericht verstandenen Weise begünstigt wäre – ohne ersichtlichen Grund – auch der vertragswidrig handelnde Vorsatztäter.

(2) Das Landesarbeitsgericht muss dem Inhalt der BV 2007 aber nicht weiter nachgehen. Selbst wenn diese entsprechend seiner Sichtweise auszulegen wäre, würde ein Verstoß der Beklagten gegen das dort bestimmte „Auswertungsverbot“ nicht dazu führen, dass es den Gerichten für Arbeitssachen verwehrt wäre, die in den Rechtsstreit eingeführten Erkenntnisse ihrer Entscheidung zugrunde zu legen.

(a) Den Betriebsparteien fehlt die Regelungsmacht, ein über das formelle Verfahrensrecht der Zivilprozessordnung hinausgehendes Verwertungsverbot zu begründen oder die Möglichkeit des Arbeitgebers wirksam zu beschränken, in einem Individualrechtsstreit Tatsachenvortrag über betriebliche Geschehnisse zu halten (zweifelnd bereits BAG 31. Januar 2019 – 2 AZR 426/18 – Rn. 68, BAGE 165, 255) und diesen unter Beweis zu stellen. Es kann dahinstehen, ob und ggf. in welchem Umfang sich der Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat überhaupt verpflichten kann, Erkenntnisse aus einer Datenverarbeitung nicht zu nutzen. Die Betriebsparteien sind zwar berechtigt, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte auszugestalten und ggf. zu erweitern. Dabei sind sie nicht auf die in §  88 BetrVG genannten Regelungsgegenstände beschränkt. Die Aufzählung der dort genannten Angelegenheiten ist nicht abschließend. Den Betriebsparteien fehlt jedoch die Befugnis zu Eingriffen in das gerichtliche Verfahren. Dieses steht nicht zu ihrer Disposition. Vielmehr obliegt seine Ausgestaltung dem Gesetzgeber. Allein dieser ist befugt, den gerichtlichen Verfahrensablauf zu bestimmen (vgl. BAG 18. August 2009 – 1 ABR 49/08 – Rn. 20, BAGE 131, 358). Dazu gehört auch die in §§ 138, 286 Abs. 1 ZPO bestimmte Möglichkeit, Tatsachenstoff in das Verfahren einzuführen und unter Beweis zu stellen, sowie die darauf bezogene Würdigung durch das Gericht.

(b) Es tritt hinzu, dass das Recht zur – hier vorrangig erklärten – außerordentlichen Kündigung des Arbeitsvertrags gemäß §  626 BGB im Voraus weder verzicht- noch erheblich erschwerbar und eine gegenteilige Regelung nach § 134 BGB nichtig ist (BAG 15. März 1991 – 2 AZR 516/90 – zu II 2 d aa der Gründe; 28. Oktober 1971 – 2 AZR 15/71 – zu II 2 b der Gründe; 18. Dezember 1961 – 5 AZR 104/61 – zu 1 der Gründe).

Zumindest auf eine erhebliche Erschwerung des Rechts zur außerordentlichen Kündigung liefe aber ein Verbot für den Arbeitgeber hinaus, Erkenntnisse aus einer Überwachungsmaßnahme, die auf ein Verhalten hindeuten (sollen), das „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Grund i.S.v. §  626 BGB zu bilden, in einen Kündigungsschutzprozess einzuführen. Denn dabei handelt es sich regelmäßig um die zuverlässigsten Erkenntnisquellen (vgl. BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 27, BAGE 163, 239).

(c) Nach alledem kann dahinstehen, ob ein in einer Betriebsvereinbarung bestimmtes Verbot für den Arbeitgeber, Erkenntnisse aus einer – zumal offenen – Überwachungsmaßnahme in einen Kündigungsschutzprozess einzuführen, die auf eine vorsätzliche Pflichtverletzung eines Arbeitnehmers hindeuten, auch unionsrechtswidrig wäre. Dafür dürfte sprechen, dass die DS-GVO nach ihrem Art.  1 Abs.  1 eine grundsätzlich vollständige Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten sicherstellen soll, und die Mitgliedstaaten bzw. die Betriebsparteien, wenn sie von einer Öffnungsklausel wie derjenigen in Art. 88 Abs. 1 DS-GVO Gebrauch machen, ihr Ermessen unter den Voraussetzungen und innerhalb der Grenzen der Bestimmungen der DS-GVO ausüben müssen und deshalb nur Rechtsvorschriften bzw. Kollektivvereinbarungen erlassen dürfen, die nicht gegen den Inhalt und die Ziele der DS-GVO (u.a. Schutz des freien Datenverkehrs) verstoßen. Das betrifft namentlich die in Art. 6 DS-GVO enthaltenen Vorgaben (vgl. EuGH 30. März 2023 – C-34/21 – [Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer] Rn. 51, 59, 68 ff. und 79). Der Vorschrift ist es ausweislich ihres Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. f) aber fremd, dass bestimmte Verarbeitungen von personenbezogenen Daten trotz eines – bei Vorsatztaten besonders hohen – berechtigten Interesses des Verantwortlichen ungeachtet einer einzelfallbezogenen Abwägung ausgeschlossen sind. Ebenso erscheint zweifelhaft, ob es sich bei solchen Verwertungsverboten um geeignete und besondere Maßnahmen zur Wahrung u.a. der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Arbeitgeber i.S.v. Art. 88 Abs. 2 DS-GVO handelt (vgl. EuGH 30. März 2023 – C-34/21 – [Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer] Rn. 64). […]

Zur Vertiefung

Reif, Praxisfälle zum Datenschutzrecht XVIII: Videoüberwachung im Pausenraum = RDV 5/2022

Ullrich, Datenschutzverstoß bei unterbliebener Beteiligung des Betriebsrates gem. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG im Zusammenhang mit einer Videoüberwachung = RDV 2/2022

Reif, Die zentralen Rechtsgrundlagen der Datenverarbeitung für die Privatwirtschaft im Überblick = RDV 4/2020

[Presseveröffentlichung] Beweisverwertungsverbot im Kündigungsschutzprozess bei datenschutzrechtlich unzulässiger Videoüberwachung = RDV 5/2023

[Urteil] Beweisverwertungsverbot bei datenschutzwidriger Kontrolle der Arbeitszeit durch Videoüberwachungsanlage = RDV 1/2023

[Urteil] Verwertungsverbot durch Zeitablauf bei zulässiger offener Videoüberwachung = RDV 6/2018