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Urteil : Das wettbewerbsrechtliche Verbot unlauterer Geschäftspraktiken gegenüber Verbrauchern gilt auch für gesetzliche Krankenkassen : aus der RDV 1/2014, Seite 32 bis 34

(Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 3. Oktober 2013 – C-59/12 –)

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Die Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) ist dahin auszulegen, dass eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die mit einer im Allgemeininteresse liegenden Aufgabe wie der Verwaltung eines gesetzlichen Krankenversicherungssystems betraut ist, in ihren persönlichen Anwendungsbereich fällt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage:

Die BKK ist eine als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisierte gesetzliche Krankenkasse des deutschen Rechtssystems.

Mit ihrer Klage nimmt die Wettbewerbszentrale die BKK auf Unterlassung der folgenden, im Dezember 2008 auf der Website der BKK veröffentlichten Aussagen in Anspruch:

„Wer die BKK … jetzt verlässt, bindet sich an die [neue gesetzliche Krankenkasse] für die nächsten 18 Monate. Somit entgehen Ihnen attraktive Angebote, die Ihnen die BKK … im nächsten Jahr bietet und Sie müssen am Ende möglicherweise draufzahlen, wenn Ihre neue Kasse mit dem ihr zugeteilten Geld nicht auskommt und deswegen einen Zusatzbeitrag erhebt.“

Die Wettbewerbszentrale hält diese Informationen für irreführend und daher sowohl nach der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken als auch nach nationalem Wettbewerbsrecht für unzulässig. Die BKK verschweige nämlich, dass dem Versicherungsnehmer im Fall der Erhebung eines Zusatzbeitrags nach deutschem Recht ein gesetzliches Sonderkündigungsrecht zustehe.

Deshalb mahnte die Wettbewerbszentrale die BKK mit Schreiben vom 17. Dezember 2008 ab und forderte sie zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung sowie zur Erstattung vorgerichtlicher Kosten auf.

Die BKK entfernte daraufhin die fraglichen Aussagen von ihrer Website. Mit Schreiben vom 6. Januar 2009 räumte sie ein, fehlerhafte Informationen eingestellt zu haben, und sagte zu, künftig nicht mehr mit den beanstandeten Aussagen zu werben. Zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung gegenüber der Wettbewerbszentrale und zur Übernahme der vorgerichtlichen Kosten war sie hingegen nicht bereit.

Nach Ansicht der BKK sind weder die Vorschriften des UWG noch diejenigen der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbar. Aus Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie gehe nämlich hervor, dass sie nur auf „Geschäftspraktiken“ eines „Gewerbetreibenden“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b anzuwenden sei, und § 2 Abs. 1 Nrn. 1 und 6 UWG habe im Wesentlichen den gleichen Wortlaut wie die genannten Richtlinienbestimmungen. Diese Kriterien seien im vorliegenden Fall aber nicht erfüllt, weil die BKK als Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht mit Gewinnerzielungsabsicht handele.

Vom erstinstanzlichen Gericht wurde die BKK unter Androhung von Ordnungsmitteln verurteilt, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken mit den beanstandeten Aussagen zu werben, und an die Wettbewerbszentrale 208,65 Euro nebst Zinsen zu zahlen.

Die dagegen gerichtete Berufung der BKK blieb erfolglos. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision beantragt sie, die von der Wettbewerbszentrale erhobene Klage abzuweisen.

Der Bundesgerichtshof ist der Ansicht, dass die von der BKK verbreiteten Werbeaussagen eine irreführende Praxis im Sinne der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken darstellten und gegen das UWG verstießen.

Ein solcher Verstoß könne aber nur festgestellt werden, wenn die fragliche Praxis anhand der Vorschriften dieser Richtlinie, auf der das UWG beruhe, beurteilt werden könne.

Ungeklärt sei jedoch, ob die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen sei, dass ein Wirtschaftsteilnehmer wie die BKK, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung erfülle, bei der Verbreitung der beanstandeten Aussagen als „Unternehmen“ gehandelt habe. Es könnte nämlich geltend gemacht werden, dass eine solche Einrichtung keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe, sondern einen rein sozialen Zweck verfolge.

Der Bundesgerichtshof hat unter diesen Umständen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen, dass eine – sich als Geschäftspraxis eines Unternehmens gegenüber Verbrauchern darstellende – Handlung eines Gewerbetreibenden auch darin liegen kann, dass eine gesetzliche Krankenkasse gegenüber ihren Mitgliedern (irreführende) Angaben darüber macht, welche Nachteile den Mitgliedern im Fall eines Wechsels zu einer anderen gesetzlichen Krankenkasse entstehen?

Zur Vorlagefrage

Zunächst ist festzustellen, dass der Bundesgerichtshof, wie aus den Akten hervorgeht, die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Angaben als irreführende Praxis im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ansieht und dass er die Absicht hat, sie aufgrund von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie und des UWG zu untersagen.

Zu diesem Zweck wirft das vorlegende Gericht jedoch die Frage auf, ob der Verfasser solcher Angaben, im vorliegenden Fall die BKK, in den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie fällt, auch wenn es sich bei ihm um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts handelt, die mit einer im Allgemeininteresse liegenden Aufgabe wie der Verwaltung eines gesetzlichen Krankenversicherungssystems betraut ist.

Zur Klärung der Frage, ob eine nationale öffentlich-rechtliche Einrichtung wie die BKK, die mit der Verwaltung eines gesetzlichen Krankenversicherungssystems betraut ist, als „Unternehmen“ im Sinne der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken anzusehen ist und ob sie in dieser Eigenschaft den Vorschriften dieser Richtlinie unterliegt, wenn sie – wie im vorliegenden Fall – gegenüber ihren Mitgliedern irreführende Angaben macht, ist vorab darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Rechts der Union als auch des Gleichheitssatzes folgt, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der Regelung verfolgten Zwecks zu erfolgen hat (vgl. u. a. Urteile vom 19. September 2000, Linster, C-287/98, Slg. 2000, I-6917, Randnr. 43, vom 11. März 2003, Ansul, C-40/01, Slg. 2003, I-2439, Randnr. 26, und vom 30. Juni 2011, VEWA, C-271/10, Slg. 2011, I-5815, Randnr. 25).

Folglich ist es für die Zwecke der Auslegung der genannten Richtlinie durch den Gerichtshof und der Beantwortung der ihm vom vorlegenden Gericht gestellten Frage unerheblich, wie die Einordnung, die Rechtsstellung und die spezifischen Merkmale der fraglichen Einrichtung nach nationalem Recht ausgestaltet sind.

Zur Beantwortung der Frage ist festzustellen, dass die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken zwar stets den Begriff „Verbraucher“ verwendet, die andere Partei eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts aber entweder als „Unternehmen“ oder als „Gewerbetreibenden“ bezeichnet.

So gilt die Richtlinie nach ihrem Art. 3 Abs. 1 „für unlautere Geschäftspraktiken … von Unternehmen gegenüber Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines … Handelsgeschäfts“.

Nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern“ „jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt“. Der Begriff „Produkt“ wird in Art. 2 Buchst. c als jede Ware oder Dienstleistung definiert, wobei im Übrigen kein Wirtschaftszweig ausgenommen ist.

In Art. 2 Buchst. b der Richtlinie wird der Begriff „Gewerbetreibender“ definiert als „jede natürliche oder juristische Person, die im Geschäftsverkehr im Sinne dieser Richtlinie im Rahmen ihrer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit handelt, und jede Person, die im Namen oder Auftrag des Gewerbetreibenden handelt“.

In Anbetracht dessen ist festzustellen, dass für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken die Begriffe „Unternehmen“ und „Gewerbetreibender“ in ihrer Bedeutung und rechtlichen Tragweite übereinstimmen. Dabei wird der Begriff „Gewerbetreibender“ in den Bestimmungen der Richtlinie am häufigsten verwendet.

In diesem Zusammenhang ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, dass der Unionsgesetzgeber den Begriff „Gewerbetreibender“ besonders weit konzipiert hat als „jede natürliche oder juristische Person“, die eine entgeltliche Tätigkeit ausübt, und davon weder Einrichtungen, die eine im Allgemeininteresse liegende Aufgabe erfüllen, noch öffentlich-rechtliche Einrichtungen ausnimmt.

Darüber hinaus sind der Sinn und die Bedeutung des Begriffs „Gewerbetreibender“, wie er in der Richtlinie verwendet wird, im Hinblick auf den Wortlaut der Definitionen in ihrem Art. 2 Buchst. a und b anhand des korrelativen, aber antinomischen Begriffs „Verbraucher“ zu bestimmen, der jeden nicht gewerblich oder beruflich Tätigen bezeichnet (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Januar 1993, Shearson Lehman Hutton, C-89/91, Slg. 1993, I-139, Randnr. 22).

Wie u. a. aus Art. 1 und dem 23. Erwägungsgrund der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken hervorgeht, soll mit ihr durch eine vollständige Harmonisierung der Regeln über unlautere, die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher beeinträchtigende Geschäftspraktiken – einschließlich der unlauteren Werbung von Gewerbetreibenden gegenüber Verbrauchern – ein hohes gemeinsames Verbraucherschutzniveau gewährleistet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag, C-540/08, Slg. 2010, I-10909, Randnr. 27).

Dieses mit der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken verfolgte Ziel, das darin besteht, die Verbraucher umfassend vor derartigen Praktiken zu schützen, beruht auf dem Umstand, dass sich ein Verbraucher im Vergleich zu einem Gewerbetreibenden in einer unterlegenen Position befindet, da er als wirtschaftlich schwächer und rechtlich weniger erfahren als sein Vertragspartner angesehen werden muss (vgl. entsprechend Urteil Shearson Lehman Hutton, Randnr. 18).

Daher hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dem Begriff „Verbraucher“ entscheidende Bedeutung für die Zwecke der Auslegung dieser Richtlinie zukommt und dass ihre Bestimmungen im Wesentlichen aus der Sicht des Verbrauchers als des Adressaten und Opfers unlauterer Geschäftspraktiken konzipiert sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Mai 2011, Ving Sverige, C-122/10, Slg. 2011, I-3903, Randnrn. 22 und 23, sowie vom 19. September 2013, CHS Tour Services, C-435/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 43).

In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden besteht aber die Gefahr, dass die Mitglieder der BKK, die offensichtlich als Verbraucher im Sinne der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken anzusehen sind, durch die von der BKK verbreiteten irreführenden Angaben getäuscht und damit davon abgehalten werden, eine informierte Wahl zu treffen (vgl. den 14. Erwägungsgrund der Richtlinie), und im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie zu einer Entscheidung veranlasst werden, die sie ohne solche Angaben nicht getroffen hätten. In diesem Zusammenhang sind der öffentliche oder private Charakter der fraglichen Einrichtung sowie die spezielle von ihr wahrgenommene Aufgabe unerheblich.

Angesichts dessen ist eine Einrichtung wie die BKK als „Gewerbetreibender“ im Sinne der Richtlinie einzustufen.

Allein die vorstehende Auslegung ist nämlich geeignet, die volle Wirkung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken zu gewährleisten, indem sie dafür sorgt, dass unlautere Geschäftspraktiken im Einklang mit dem Erfordernis eines hohen Verbraucherschutzniveaus wirksam bekämpft werden.

Für eine solche Auslegung spricht auch, dass die Richtlinie anerkanntermaßen durch einen besonders weiten sachlichen Anwendungsbereich gekennzeichnet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag, Randnr. 21).

Nach alldem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen ist, dass eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die mit einer im Allgemeininteresse liegenden Aufgabe wie der Verwaltung eines gesetzlichen Krankenversicherungssystems betraut ist, in ihren persönlichen Anwendungsbereich fällt.