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Urteil : Unzumutbarkeit der Auskunftserteilung bei grobem Missverhältnis zwischen Leistungsinteresse und Aufwand gem. § 275 Abs. 2 BGB : aus der RDV 3/2023 Seite 192 bis 194

(AG Pankow, Urteil vom 28. März 2023 – 4 C 199/21 –)

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Relevanz für die Praxis

Art. 15 DS-GVO gewährt einen umfassenden Auskunftsanspruch, für dessen Geltendmachung es kein datenschutzrechtliches Interesse bedarf. Daher wird der Anspruch oft auch zu außerhalb des Datenschutzrechts liegenden Zwecken genutzt, etwa aus prozesstaktischen Gründen. Eine Grenze ist hier die Rechtsmissbräuchlichkeit, die bisweilen von der Rechtsprechung allerdings eher zurückhaltend bejaht wird.

Im vorliegenden Fall zieht das Gericht eine weitere Grenze, die Unzumutbarkeit nach § 275 BGB. Eine Unzumutbarkeit wird allerdings ebenso wie die Rechtsmissbräuchlichkeit nur im Ausnahmefall bejaht. Das Gericht betont, dass es ein grobes Missverhältnis zwischen Aufwand und Transparenzinteresse bedarf. Zur Bewertung des Transparenzinteresses bezieht sich das Gericht auf den Normzweck von Art.  15 DS-GVO, das Bewusstwerden über die Datenverarbeitung, das Vergewissern über Zwecke, Absichten und Rechtsfolgen der Datenverarbeitung und die Überprüfung der Rechtmäßigkeit. Es bezieht zudem die Interessen Dritter, deren Daten zur Erfüllung der Auskunft verarbeitet werden müssten, in die Abwägung mit ein.

  1. Aufgrund des Ausnahmecharakters von § 275 Abs. 2 BGB und aufgrund der zentralen Bedeutung des Auskunftsanspruchs gemäß Art. 15 DS-GVO sind strenge Maßstäbe an die Unverhältnismäßigkeit eines Auskunftsbegehrens anzulegen. Insbesondere besteht ein Verweigerungsrecht nur bei groben Missverhältnis zwischen Aufwand und Leistungsinteresse.
  2. Das Transparenzinteresse der betroffenen Person ist gering, wenn sie sich über das Ob, Wie und Was der Datenverarbeitung bewusst ist.
  3. Innerhalb der Abwägung sind auch Interessen Dritter zu berücksichtigen.

(Nicht amtliche Leitsätze)

Aus dem Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten Schmerzensgeld.

Die Beklagte ist ein Personenbeförderungsunternehmen. In einigen Zügen der Beklagten findet eine Videoaufzeichnung der Zuginnenräume bei Fahrbetrieb statt. Die Aufzeichnungen werden 48 Stunden gespeichert.

Mit E-Mail vom 27. April 2021 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er gegen 14:18 Uhr am Bahnhof Schönhauser Allee in die S-Bahn, Zug-Nr.: 482 479-3, eingestiegen sei. Er bat die Beklagte um Herausgabe der ihn betreffenden Videoinformationen und forderte die Beklagte zugleich auf die ihn betreffenden Daten nicht zu löschen. Die Beklagte löschte die Daten innerhalb der Löschfrist von 48 Stunden und lehnte mit Schreiben vom 3. Mai 2021 die begehrte Auskunft gegenüber dem Kläger ab.

Aus den Gründen:

Dem Kläger steht kein Schmerzensgeldanspruch gegen die Beklagte zu. Insbesondere hat er keinen Anspruch gemäß Art.  82 Abs.  1 DS-GVO. Danach kann eine Person Schadenersatz für Schäden verlangen, die wegen eines Verstoßes gegen die Verordnung entstanden sind.

Ein Verstoß der Beklagten liegt nicht vor. Denn die Weigerung der Beklagten, dem Kläger Auskunft über die begehrten Daten zu erteilen, verstößt weder gegen das Auskunftsrecht des Klägers gemäß Art.  15 Abs.  1 DS-GVO, noch gegen das Recht aus Art. 18 Abs. 1 lit. c) DS-GVO einer von Datenverarbeitung betroffenen Person, vom Verantwortlichen zu verlangen, die Löschung zu unterlassen.

Dabei kann offenbleiben, ob der Kläger zu der von ihm behaupteten Zeit in der S-Bahn der Beklagten gefahren ist. Selbst diesen Vortrag des Klägers als wahr unterstellt, kann die Klage keinen Erfolg haben. Hinsichtlich des hierauf basierenden Auskunftsanspruch gemäß Art. 15 DS-GVO ist der Beklagten das Erfüllen dieses Auskunftsanspruchs jedoch aufgrund unverhältnismäßigen Aufwands unzumutbar gemäß § 275 Abs. 2 BGB (vgl. Gola/Franck, DS-GVO, Kommentar, 1.  Aufl. 2017, Art.  15, Rn. 30). Aufgrund des Ausnahmecharakters von § 275 Abs. 2 BGB und aufgrund der zentralen Bedeutung des Auskunftsanspruchs gemäß Art.  15 DS-GVO sind strenge Maßstäbe an die Unverhältnismäßigkeit eines Auskunftsbegehrens anzulegen. Insbesondere besteht ein Verweigerungsrecht nur bei groben Missverhältnis zwischen Aufwand und Leistungsinteresse.

Ein solch grobes Missverhältnis besteht jedoch hier. Denn das Transparenzinteresse des Klägers ist äußerst gering. Insbesondere war er sich des Ob, Wie und Was der Datenverarbeitung bewusst (vgl. Gola/Franck, DS-GVO, Kommentar, 1. Aufl. 2017, Art.  15, Rn. 2). Der Kläger wusste genau, dass und in welchem Umfang personenbezogene Daten erhoben werden. Der Normzweck von Art. 15 DS-GVO – das Bewusstwerden über die Datenverarbeitung – war daher weitestgehend schon erfüllt. Der hier vorliegende Sachverhalt ist gerade nicht mit einer Situation vergleichbar, bei der sich ein Auskunftsbegehrender einen Überblick über verarbeitete personenbezogene Daten verschaffen will, die gegebenenfalls länger in der Vergangenheit zurücklegen, oder bei den Daten zu unterschiedlichen Anlässen verarbeitet werden. Die Datenverarbeitung durch die Beklagte ist von vornherein auf 48 Stunden zeitlich und örtlich auf die Züge der Beklagten begrenzt. Dem Kläger und jedem anderen Dritten ist es zumutbar, sich innerhalb des kurzen Zeitraums von 48 Stunden zu erinnern, wann eine Dienstleistung der Beklagten in Anspruch genommen wurde und wann entsprechend eine Verarbeitung personenbezogener Daten stattgefunden hat. Mit Blick auf den sehr kurzen Zeitraum ist der vom Kläger beklagte Kontrollverlust nicht erkennbar. Wie der Kläger selbst darlegt, wurde er zudem von der Beklagten auch über sämtliche von Art. 15 Abs. 1 lit. a)-h) DS-GVO erfassten Aspekte der Datenverarbeitung, einschließlich Verarbeitungszweck, Dauer der Verarbeitung und Beschwerderecht informiert. Auch insoweit ist der Normzweck von Art. 15 DS-GVO der Vergewisserung über „Existenz, Zwecke, Absichten und Rechtsfolgen“ der Datenverarbeitung erfüllt (vgl. Paal/Pauly Datenschutzgrundverordnung, Bundesdatenschutzgesetz, 3. Aufl. 2021, Art. 15 Rn. 3). Welches darüber hinausgehende Interesse der Kläger an der konkreten Gestalt der Videoaufzeichnung hat, hat er nicht hinreichend dargelegt und erschließt sich nicht. Denn für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Videoaufzeichnung als einen wesentlichen Zweck von Art. 15 DS-GVO bedarf der Kläger der konkreten Gestalt der Videoaufzeichnung nicht. Unabhängig von der konkreten Auflösung der Videoaufzeichnung oder der möglichen Erfassung von biometrischen Daten, steht der Eingriffscharakter der Aufzeichnung im wesentlichen fest. Entsprechend gering ist das von Art. 15 DS-GVO geschützte Vergewisserungsinteresse des Klägers.

Demgegenüber hat die Beklagte substanziiert dargelegt, dass die Erfüllung des Auskunftsanspruchs durch Verhinderung der automatischen Löschung und anschließenden Auskunft an den Kläger einen erheblichen Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft bedeutet. Dass ein solcher Aufwand einem Auskunftsbegehren entgegenstehen kann, ist europarechtlich anerkannt (vgl. EuGH, Urt. v. 19.10.2016 C 582/14). Zum einen verfügt die Beklagte über keine Software zur Gesichtserkennung. Entsprechend komplex wäre es für die Beklagte, den Kläger aufgrund seiner Angaben zu identifizieren. Die Beklagte hat insoweit substanziiert vorgetragen, dass erhebliche Ressourcen zur Identifizierung von Personen nötig wären und dass die datenschutzgerechte Entnahme der Kassetten aufgrund von Anreisezeiten zu den Zügen und Sicherheitsvorkehrungen aufwendig sind. Zum anderen würde die Auskunft an den Kläger erfordern, dass die Beklagte ihre Betriebsvereinbarung mit Hinblick auf die Auswertung der Speicherkassetten anpasst und diese selbst auswertet, bzw. Dritte hiermit beauftragt. Eine Anpassung ihrer Prozesse, zum Beispiel durch die Anschaffung einer Software zur automatisierten Gesichtserkennung oder über eine zentrale Speicherung der Videoaufzeichnungen, bedeuten jedoch ebenso einen erheblichen Aufwand und begegnen darüber hinaus erheblichen datenschutzrechtlichen Bedenken. Die Beklagte hat insoweit dargelegt, dass ihre dezentralisierten Verarbeitungsprozesse gerade dem Datenschutz dienen. Wäre sie zu einer längeren Speicherung aufgrund des Verlangens des Klägers verpflichtet, wären notwendig auch die durch Art. 15 Abs. 4 DS-GVO geschützten Interessen von Dritten betroffen. Aufgrund der datenschutzrechtlichen Verpflichtung der Beklagten gegenüber Dritten ist diese Drittbetroffenheit auch im Rahmen der gemäß §  275 Abs.  2 BGB erforderlichen Prüfung des Äquivalenzinteresses von Kläger und Beklagten zu berücksichtigen. Denn selbst wenn die Verpixelung oder anderweitige Unkenntlichmachung von Dritten technisch möglich ist, dürfte diese Identifizierung und Unkenntlichmachung regelmäßig nicht zuverlässig innerhalb von 48 Stunden, gegebenenfalls in sogar noch kürzeren Zeiträumen zu leisten sein. Daher würden bei einer längeren Speicherung nach einem Auskunftsersuchen notwendig die Datenschutzrechte von Dritten beeinträchtigt. Der Kläger verkennt insoweit, dass die von ihm begehrte Auskunft die strengen Löschfristen von § 20 Abs. 5 Bln DSG i.V.m. Art. 17 DS-GVO gegenüber Dritten und hiermit ein zentrales normatives datenschutzrechtliches Anliegen aufzuweichen droht. Aufgrund dessen tritt mit Blick auf den erheblichen Ressourcenaufwand der Beklagten, sowie Datenschutzrechten von Dritten, der begrenzte Erkenntnisgewinn des Klägers an der konkreten Gestalt der Videoaufzeichnung zurück, weswegen von einem groben Missverhältnis zwischen Leistungsinteresse und Aufwand gemäß § 275 Abs. 2 BGB auszugehen ist.

Es kann insoweit dahinstehen, ob ein Verweigerungsrecht der Beklagten auch aus einer analogen Anwendung von Art. 14 Abs. 5 DS-GVO folgt. Ebenso kann dahinstehen, ob die vom Kläger begehrte längere Speicherung der personenbezogenen Daten und anschließender Auskunft hierüber bereits wegen eines Verstoßes gegen § 20 Abs. 5 Bln DSG rechtlich unmöglich ist, § 275 Abs. 1 BGB.

Aus den gleichen Gründen verletzt das Unterlassen der Beklagten, die automatische Löschung zu verhindern, nicht Art. 18 Abs. 1 DS-GVO. Nach Art. 18 Abs. 1 c) DS-GVO kann eine von einer Datenverarbeitung betroffene Person vom verantwortlichen Verlangen, die Löschung zu unterlassen, wenn sie die verarbeitenden Daten zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen benötigt. Auch im Rahmen von Art.  18 DS-GVO, der ein Verhindern der Löschung bei Benötigen des Begehrens vorsieht, ist jedoch eine abwägende Prognose im Einzelfall anzustellen, die die Wahrscheinlichkeit des Rechtsstreits, das Gewicht der betroffenen Ansprüche und die Belange der betroffenen Person berücksichtigt (vgl. Auernhammer/Stollhoff, Datenschutz-Grundverordnung, Kommentar, 6. Aufl., 2018, Art. 18, Rn. 21). Wie bereits dargelegt, ist das Vergewisserungsinteresse des Klägers an der Videoaufzeichnung gering. In gleichem Maße greifen die Bedenken hinsichtlich des Aufwands der Beklagten im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 c) DS-GVO durch. Es kann daher auch hinsichtlich eines Anspruchs aus Art.  18 Abs.  1 DS-GVO dahinstehen, ob das Aufhalten der automatischen Löschung durch die Beklagte von vornherein aufgrund von § 20 Abs. 5 Bln DSG rechtlich unmöglich war.

Unabhängig davon steht dem Kläger auch bei einem unterstellten Verstoß gegen die DS-GVO ein Schmerzensgeld aus Art.  82 DS-GVO nicht zu. Voraussetzung ist nicht nur ein Verstoß, sondern auch, dass der Kläger einen Schaden erlitten hat. Allein, dass der Kläger die Auskunft nicht erhalten hat bzw. die Löschung nicht verhindert wurde, kann keinen ersatzfähigen Schaden begründen. Es muss auch bei einem immateriellen Schaden eine Beeinträchtigung eingetreten sein, die unabhängig von einer Erheblichkeitsschwelle wenigstens spürbar sein muss (vgl. LG Bonn, Urt. v. 01.07.2021 – 15 O 355/20 – juris). Andernfalls scheidet ein Schaden begrifflich schon aus. Einen solchen Schaden hat der Kläger jedoch nicht vorgetragen.

Zur Vertiefung

[Urteil] Auskunftsanspruch nach Art. 15 DS-GVO steht Insolvenzverwalter nicht zu = RDV 2/2023

[Urteil] BGH fragt EuGH nach Anspruch gegen Arzt auf kostenfreie Zurverfügungstellung der Patientenakte nach Art. 15 Abs. 3 DS-GVO und Möglichkeit der Beschränkung nach § 630g Abs. 2 S. 2 BGB = RDV 4/2022

[Urteil] Auskunftsrecht nach Art.  15 DS-GVO und immaterieller Schadenersatz nach Art. 82 = Ausgabe 1/2022

[Urteil] Zur Reichweite des Auskunftsanspruchs nach Art.  15 Abs. 1 DS-GVO = RDV 4/2021

Besprechung der BGH-Entscheidung vom 15.06.2021, VI ZR 576/19 zum Umfang des Auskunftsanspruchs nach Art. 15 Abs. 1 DS-GVO = RDV 6/2021