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Urteil : Keine Pflicht zur Abgabe eines Fingerabdrucks bei Personalausweis : aus der RDV 3/2023 Seite 200 bis 202

(VG Hamburg, Beschluss vom 13. März 2023 – 20 E 377/23 –)

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  1. Die Verordnung 2019/1157 stellt keine angemessene Grundlage für einen mit der Pflicht zur Abgabe von Fingerabdrücken einhergehenden Eingriff in Artt.  7 und 8 GRCh dar, weil die Verordnung die Anforderungen des besonderen Gesetzgebungsverfahrens aus Art. 77 Abs. 3 AEUV nicht gewahrt hat.
  2. Bestehen an einer Verwaltungsmaßnahme einer nationalen Behörde, die auf sekundärem Unionsrecht beruht, erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des Unionsrechts, so kann nach dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes im Eilverfahren dessen Durchführung ausgesetzt werden, ohne hierbei den Vorrang des Verwerfungsmonopols des Europäischen Gerichtshofs zu missachten.

(Nicht amtliche Leitsätze)

Aus den Gründen:

1. Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz im Hinblick auf die Ausstellung eines Personalausweises ohne die Abgabe seiner Fingerabdrücke zum Zwecke der Speicherung auf dem elektronischen Chip des Ausweises. […]

Betreffend eine Verlängerung seines Personalausweises wandte er sich mit seinem Anliegen zunächst an die Antraggegnerin. Diese teilte ihm mit Schreiben vom 16. Januar 2023 mit, dass die Ausstellung eines neuen Personalausweises aufgrund von § 5 Abs. 1 Personalausweisgesetz (PAuswG) und § 5 Abs. 5 Nr. 3 PAuswG zwingend die Abgabe von Fingerabdrücken erfordere. Hiergegen wandte sich der Antragsteller mit einem als „Widerspruch“ bezeichneten Schreiben vom 21. Januar 2023. […]

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Ausstellung des begehrten Personalausweises aus § 9 Abs. 1 S. 1 des Personalausweisgesetzes (PAuswG). Fingerabrücke muss er hierfür nicht abgeben, weil es hierfür keine Grundlage gibt. Gemäß § 5 Abs. 9 PAuswG werden zwar die auf Grund der Verordnung (EU) 2019/1157 […] auf dem elektronischen Speichermedium zu speichernden zwei Fingerabdrücke der antragstellenden Person in Form des flachen Abdrucks des linken und rechten Zeigefingers im elektronischen Speicher- und Verarbeitungsmedium des Personalausweises gespeichert. Allerdings gibt es nach den derzeit vorliegenden Informationen keine nach der genannten Verordnung zu speichernden Fingerabdrücke, weil die Verordnung jedenfalls insoweit unwirksam ist. Es kann dahinstehen, ob sich dies bereits daraus ergibt, dass der hinsichtlich der Fingerabdrücke maßgebliche Art. 3 Abs. 5 VO 2019/1157 gegen Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) verstößt (hierzu unter aa.). Die Verordnung ist bereits wegen eines Verstoßes im Hinblick auf die Durchführung eines ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahren unwirksam […].

aa. Nach Ansicht des Gerichts könnte Art.  3 Abs.  5 VO 2019/1157 möglicherweise gegen Art.  7 und 8 GRCh verstoßen. […]

Die Erfassung und die Speicherung von Fingerabdrücken durch nationale Behörden stellen einen Eingriff in die Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten dar. Daher ist zu prüfen, ob diese Eingriffe gerechtfertigt sind (vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.2013, C-291/12, juris – zur Rechtmäßigkeit der Speicherung von Fingerabdrücken in Reisepässen).

Nach Art. 8 Abs. 2 GRCh dürfen personenbezogene Daten nur mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden. Da gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 PAuswG in Deutschland eine Personalausweispflicht besteht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diejenigen, die einen Personalausweis beantragen, in eine solche Datenverarbeitung eingewilligt haben (vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.2013, a.a.O., Rn. 31). Nach Art. 52 Abs. 1 GRCh sind Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte dennoch zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.2013, a.a.O., Rn. 34).

Mit Art.  3 Abs.  5 VO 2019/1157 verfolgt der Gesetzgeber ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel. Gemäß den ErwG 17, 18 und 19 der Verordnung dient die Aufnahme der Fingerabdrücke in Personalausweisen insbesondere dem Zweck, das Fälschungs- und Betrugsrisiko zu verringern und so die Sicherheit der Personalausweise zu erhöhen. Auf diese Weise soll die Freizügigkeit der Unionsbürger gefördert werden. Die Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen ist auch geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Durch die Speicherung der Fingerabdrücke wird die Fälschungsmöglichkeit aufgrund erhöhter technischer Anforderungen jedenfalls erschwert. […]

Offen ist jedoch, ob der mit der Speicherung der Fingerabdrücke verbundene Eingriff in das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 GRCh noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem damit verfolgten Zweck steht. Hierbei ist zunächst maßgeblich, dass es sich bei Fingerabdrücken um biometrischen Daten handelt, die als höchst sensibel einzustufen sind (vgl. Ziebarth, in: Sydow/Marsch, DS-GVO/BDSG, DS-GVO, 3. Aufl. 2022, Art. 4 Rn. 185). Im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit ist dem Schutz dieser Daten daher ein besonders hoher Stellenwert einzuräumen. Damit sind an den mit der Verarbeitung dieser Daten verfolgten Zweck auch besonders hohe Anforderungen zu stellen. Der Europäische Gerichtshof hat die Speicherung von Fingerabdrücken in Reisepässen zum Zwecke der Verhinderung der illegalen Einreise als angemessen erachtet (vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.2013, C-291/12, juris). Jedoch ist die dort vorgenommene Abwägung nicht gänzlich auf den vorliegenden Fall übertragbar. Denn gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 PAuswG ist jeder Deutsche im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG verpflichtet, einen Personalausweis zu besitzen, womit keine Möglichkeit besteht, sich der Abgabe der Fingerabdrücke zu entziehen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zum Reisepass, dessen Besitz freiwillig ist. Der Personalausweis wird zudem nicht nur als Reisedokument, sondern auch für eine Vielzahl weiterer Zwecke im alltäglichen Leben genutzt, womit das Missbrauchsrisiko der auf dem Chip befindlichen Daten steigt. Daher unterliegt die Prüfung der Angemessenheit der Speicherung von Fingerabdrücken in Reisepässen und Personalausweisen nach Ansicht des Gerichts unterschiedlichen Maßstäben (vgl. VG Wiesbaden, Beschl. v. 13.01.2022, 6 K 1563/21.WI, juris Rn. 52). […]

bb. Vorliegend hätte nach Ansicht des Gerichts für den Erlass der Verordnung 2019/1157 jedenfalls das besondere Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 77 Abs. 3 AEUV durchgeführt werden müssen, sodass sich die Regelung in Art.  3 Abs. 5 VO 2019/1157 schon aus diesem Grund als rechtswidrig erweist.

Die Verordnung 2019/1157 wurde auf Art.  21 Abs.  2 AEUV gestützt und auf Vorschlag der Europäischen Kommission nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente, nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und nach Anhörung des Ausschusses der Regionen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen. Nach Art. 21 Abs. 2 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Vorschriften erlassen, mit denen die Ausübung des Freizügigkeitsrechts erleichtert wird, wenn zur Erreichung dieses Ziels ein Tätigwerden der Union erforderlich erscheint und die Verträge hierfür keine Befugnisse vorsehen.

Mit Art. 77 Abs. 3 S. 1 AEUV existiert jedoch eine weitere Kompetenznorm, die hier vorrangig anzuwenden ist. Demgemäß kann der Rat in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente erlassen, falls zur Erleichterung der Freizügigkeit ein Tätigwerden der Union erforderlich ist und sofern die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen. Damit sind in erster Linie Vorschriften über die Gestaltung dieser Dokumente gemeint, so auch die Aufnahme biometrischer Daten (vgl. Schoo, in: Schwarze/Becker/Hatje, EU-Kommentar, AEUV, Art. 77 Rn. 19). Da Art. 3 Abs. 5 VO 2019/1157 mit der Verpflichtung zur Speicherung von Fingerabdrücken Vorgaben im Hinblick auf die Gestaltung von Personalausweisen trifft, die gemäß der ErwG 1, 2, 17 und 28 der Verordnung ausdrücklich dem Zweck dienen, die Freizügigkeit der Unionsbürger zu fördern, stellt Art.  77 Abs.  3 S.  1 AUEV die einschlägige Rechtsgrundlage dar. Die Kompetenz nach Art. 77 Abs.3 AEUV ist zwar subsidiär gegenüber anderen im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehenen Befugnissen, hierunter fällt allerdings nicht Art. 21 Abs. 2 AEUV. Dieser Norm gegenüber geht Art. 77 Abs.3 AEUV als die dem Inhalt nach speziellere Vorschrift mit den höheren Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren vor (vgl. Schoo, in: Schwarze/Becker/Hatje, EU-Kommentar, AEUV, Art. 77 Rn. 20; vgl. Weiß, in: Streinz, AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 77 Rn. 40). Gemäß Art.  77 Abs.  3 S. 2 AEUV hätte es daher eines einstimmigen Beschlusses des Rates nach Anhörung des Europäischen Parlaments bedurft (vgl. VG Wiesbaden, Beschl. v. 13.01.2022, 6 K 1563/21.WI, juris). […]

c. Das Gericht ist im vorliegenden Fall auch befugt, eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Dies gilt trotz des im Hinblick auf die Verwerfung von Unionsrecht bestehenden Monopols des Europäischen Gerichtshofs.

Beruht die Verwaltungsmaßnahme einer nationalen Behörde auf sekundärem Unionsrecht, dessen Gültigkeit zweifelhaft ist, kann das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art.  47 GRCh mit dem Verwerfungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV in Konflikt geraten, das grundsätzlich auch im Eilverfahren vor nationalen Gerichten zu beachten ist (vgl. EuGH, Urt. v. 22.10.1987, 314/85, juris). Führte die Normverwerfungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes durch nationale Gerichte, wäre die Effektivität des Rechtsschutzes gefährdet. Aus diesem Grund ist anerkannt, dass ein nationales Gericht, wenn es Zweifel an der Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift mit dem Unionsrecht hat, entsprechend den im nationalen Recht vorgesehenen Kriterien die Anwendung dieser Vorschrift im Wege des Erlasses vorläufiger Maßnahmen bis zur Entscheidung über die Vereinbarkeit aussetzen kann, sofern diese Kriterien den Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz entsprechen (vgl. EuGH, Urt. v. 13.03.2007, C-432/05, juris; vgl. EuGH, Urt. v. 09.11.1995, C 465/93, juris). Der Europäische Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass ein nationales Gericht einstweilige Anordnungen in Bezug auf einen zur Durchführung einer Gemeinschaftsverordnung erlassenen nationalen Verwaltungsakt erlassen darf,  wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit einer Unionshandlung hat und diese Gültigkeitsfrage, sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befasst ist, diesem selbst vorlegt;

  • wenn die Entscheidung dringlich in dem Sinne ist, dass die einstweiligen Anordnungen erforderlich sind, um zu vermeiden, dass die sie beantragende Partei einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet;
  • wenn es das Interesse der Union angemessen berücksichtigt und – wenn es bei der Prüfung aller dieser Voraussetzungen die Entscheidungen des Gerichtshofes oder des Gerichts über die Rechtmäßigkeit der Verordnung oder einen Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes betreffend gleichartige einstweilige Anordnungen auf Unionsebene beachtet (vgl. EuGH, Urt. v. 09.11.1995, C-465/93, juris Rn. 51)

Aus den obigen Erwägungen ergeben sich erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Art. 3 Abs. 5 VO 2019/1157. Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof kann indes unterbleiben, da dieser aufgrund eines Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 13. Januar 2022 mit derselben Frage bereits befasst ist. […]