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Urteil : Zur Europarechtskonformität des hiesigen Beschäftigtendatenschutzes : aus der RDV 3/2023 Seite 195 bis 199

(EuGH, Urteil vom 30. März 2023 – C-34/21 –)

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  1. Art. 88 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der RL 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass eine nationale Rechtsvorschrift keine „spezifischere Vorschrift“ im Sinne von Abs. 1 dieses Artikels sein kann, wenn sie nicht die Vorgaben von Abs. 2 dieses Artikels erfüllt.
  2. Art.  88 Abs.  1 und 2 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass nationale Rechtsvorschriften zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte und Freiheiten von Beschäftigten hinsichtlich der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Beschäftigungskontext unangewendet bleiben müssen, wenn sie nicht die in ebendiesem Art.  88 Abs.  1 und 2 vorgegebenen Voraussetzungen und Grenzen beachten, es sei denn, sie stellen eine Rechtsgrundlage im Sinne von Art. 6 Abs. 3 DS-GVO dar, die den Anforderungen dieser Verordnung genügt.

Zu den Vorlagefragen:

Vorbemerkungen Die Vorlagefragen betreffen die Auslegung von Art. 88 Abs. 1 und 2 DS-GVO im Rahmen eines Rechtsstreits über die Verarbeitung personenbezogener Daten von Lehrkräften beim Videokonferenz-Livestream des von ihnen zu erteilenden öffentlichen Schulunterrichts. […]

Als Zweites geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Lehrkräfte, die von der Verarbeitung personenbezogener Daten, um die es im Ausgangsrechtsstreit geht, betroffen sind, als Angestellte oder Beamte im öffentlichen Dienst des Landes Hessen stehen.

Daher ist zu klären, ob eine solche Verarbeitung personenbezogener Daten in den Anwendungsbereich von Art. 88 DS-GVO fällt, der auf die „Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäftigungskontext“ abstellt.

Hierzu ist festzustellen, dass die DS-GVO den Beschäftigtenbegriff und den Begriff des Beschäftigungskontexts weder definiert noch dafür auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. Ohne einen solchen Verweis müssen, wie es sowohl die einheitliche Anwendung des Unionsrechts als auch der Gleichheitssatz verlangen, die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten (Urt. v. 2. Juni 2022, HK/Danmark und HK/Privat, C-587/20, EU:C:2022:419, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Da außerdem die DS-GVO den Beschäftigtenbegriff und den Begriff des Beschäftigungskontexts nicht definiert, sind diese Begriffe entsprechend ihrem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen. Zu berücksichtigen sind dabei der Zusammenhang, in dem sie verwendet werden, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (Urt. v. 2. Juni 2022, HK/Danmark und HK/Privat, C-587/20, EU:C:2022:419, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Der Beschäftigtenbegriff bezeichnet in seinem üblichen Sinn eine Person, die ihre Arbeit im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses zu ihrem Arbeitgeber und daher unter dessen Kontrolle erledigt (Urt. v. 18. März 2021, Kuoni Travel, C-578/19, EU:C:2021:213, Rn. 42).

Desgleichen besteht das wesentliche Merkmal des „Beschäftigungskontexts“ darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (Urt. v. 15. Juli 2021, Ministrstvo za obrambo, C-742/19, EU:C:2021:597, Rn. 49).

Da dieses Merkmal für die Beschäftigten und für den Beschäftigungskontext sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor typisch ist, ist daraus zu folgern, dass die Begriffe „Beschäftigte“ und „Beschäftigungskontext“ nach ihrem üblichen Sinn die im öffentlichen Sektor berufstätigen Personen nicht ausschließen.

Die Tragweite von Art.  88 Abs.  1 DS-GVO kann nämlich nicht nach der Art des Rechtsverhältnisses zwischen dem Beschäftigten und demjenigen, der ihn beschäftigt, bestimmt werden. Somit ist unerheblich, ob die betreffende Person als Angestellter oder als Beamter beschäftigt ist oder ob ihr Beschäftigungsverhältnis öffentlichem oder privatem Recht unterliegt, da diese rechtlichen Qualifizierungen in der Tat je nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften variieren können und daher kein geeignetes Kriterium für eine einheitliche und autonome Auslegung dieser Bestimmung liefern können (vgl. entsprechend Urt. v. 12. Februar 1974, Sotgiu, 152/73, EU:C:1974:13, Rn. 5, und vom 3. Juni 1986, Kommission/Frankreich, 307/84, EU:C:1986:222, Rn. 11).

Was speziell Personen ohne arbeitsvertragliches Beschäftigungsverhältnis wie beispielsweise Beamte betrifft, so trifft zwar zu, dass Art. 88 DS-GVO in seinem Abs. 1 auf die „Erfüllung des Arbeitsvertrags“ Bezug nimmt. Allerdings ist zum einen festzustellen, dass sich diese Bezugnahme neben anderen in Art. 88 Abs. 1 DS-GVO aufgezählten Zwecken der Verarbeitung personenbezogener Daten im Beschäftigungskontext findet, für die die Mitgliedstaaten spezifischere Vorschriften erlassen können, und dass jedenfalls diese Aufzählung nicht erschöpfend ist, wovon das in dieser Bestimmung verwendete Adverb „insbesondere“ zeugt.

Zum anderen findet die Unerheblichkeit der Qualifizierung des Rechtsverhältnisses zwischen dem Beschäftigten und dem ihn beschäftigenden Dienstherrn darin Bestätigung, dass sich das Management, die Planung und die Organisation der Arbeit, die Gleichheit und Diversität am Arbeitsplatz, die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, der Schutz des Eigentums der Arbeitgeber oder der Kunden sowie die Inanspruchnahme der mit der Beschäftigung zusammenhängenden individuellen oder kollektiven Rechte und Leistungen und die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses, die ebenfalls in Art. 88 Abs. 1 DS-GVO aufgezählt werden, auf die Beschäftigung sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor beziehen.

Folglich kann aus der Bezugnahme auf die „Erfüllung des Arbeitsvertrags“ in Art.  88 Abs.  1 DS-GVO nicht abgeleitet werden, dass die nicht auf einem Arbeitsvertrag beruhende Beschäftigung im öffentlichen Sektor vom Anwendungsbereich dieser Bestimmung ausgenommen ist.

Die gleiche Schlussfolgerung gebietet sich hinsichtlich dessen, dass Art. 88 Abs. 2 DS-GVO unter den drei Punkten, „im Hinblick [insbesondere] auf“ welche die Mitgliedstaaten beim Erlass solcher „spezifischeren Vorschriften“ vorgehen, die Übermittlung personenbezogener Daten „innerhalb einer Unternehmensgruppe oder einer Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben“, anführt. Die beiden anderen Punkte, also die Transparenz der Verarbeitung und die Überwachungssysteme am Arbeitsplatz, sind nämlich sowohl für die Beschäftigung im privaten Sektor als auch für die Beschäftigung im öffentlichen Sektor relevant, ganz egal, wie das Rechtsverhältnis zwischen dem Beschäftigten und demjenigen, der ihn beschäftigt, geartet ist.

Die Auslegung, die sich aus dem Wortlaut von Art.  88 DS-GVO ergibt, wird durch den Zusammenhang, in den sich dieser Artikel einfügt, sowie durch das Ziel bestätigt, das mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt wird.

Wie sich aus ihrem Art. 1 Abs. 1 im Licht insbesondere ihrer ErwG 9, 10 und 13 ergibt, soll die DS-GVO eine grundsätzlich vollständige Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten sicherstellen. Allerdings eröffnen Bestimmungen dieser Verordnung den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, zusätzliche, strengere oder einschränkende, nationale Vorschriften vorzusehen, und lassen ihnen ein Ermessen hinsichtlich der Art und Weise der Durchführung dieser Bestimmungen („Öffnungsklauseln“) (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 28. April 2022, Meta Platforms Ireland, C-319/20, EU:C:2022:322, Rn. 57).

Art. 88 DS-GVO, der zu deren Kapitel IX („Vorschriften für besondere Verarbeitungssituationen“) gehört, stellt eine solche Öffnungsklausel dar, da er den Mitgliedstaaten die Befugnis einräumt, „spezifischere Vorschriften“ zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäftigungskontext zu erlassen.

Die Besonderheiten der Verarbeitung personenbezogener Daten im Beschäftigungskontext und damit die den Mitgliedstaaten durch Art.  88 Abs.  1 DS-GVO eingeräumte Befugnis erklären sich insbesondere durch das Bestehen eines Unterordnungsverhältnisses zwischen dem Beschäftigten und demjenigen, der ihn beschäftigt, und nicht durch die Art des Rechtsverhältnisses zwischen beiden.

Außerdem soll die DS-GVO nach ihrem Art. 1 Abs. 2 i.V.m. ihrem zehnten ErwG u.a. ein hohes Schutzniveau für die Grundrechte und -freiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten gewährleisten, wobei dieses Schutzrecht auch in Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wird und in engem Zusammenhang mit dem in Art.  7 der Charta verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens steht (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C-184/20, EU:C:2022:601, Rn. 61).

Damit konform ist eine weite Auslegung von Art. 88 Abs. 1 DS-GVO, nach der die „spezifischeren Vorschriften“, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäftigungskontext vorsehen können, alle Beschäftigten unabhängig von der Art des Rechtsverhältnisses betreffen können, das zwischen ihnen und demjenigen, der sie beschäftigt, besteht.

Unter diesen Umständen fällt eine Verarbeitung personenbezogener Daten von Lehrkräften beim VideokonferenzLivestream des von ihnen erteilten öffentlichen Schulunterrichts wie diejenige, um die es im Ausgangsverfahren geht, in den sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich von Art. 88 DS-GVO.

Zur ersten Frage

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art.  88 DS-GVO dahin auszulegen ist, dass eine Rechtsvorschrift, um als spezifischere Vorschrift i.S.v. Abs. 1 dieses Artikels eingestuft werden zu können, die Vorgaben von Abs. 2 dieses Artikels erfüllen muss.

Wie oben in Rn. 52 ausgeführt, sind die Mitgliedstaaten befugt und nicht verpflichtet, solche Vorschriften zu erlassen, die durch Rechtsvorschriften oder durch Kollektivvereinbarungen vorgesehen werden können.

Außerdem müssen die Mitgliedstaaten, wenn sie von der ihnen durch eine Öffnungsklausel der DS-GVO eingeräumten Befugnis Gebrauch machen, von ihrem Ermessen unter den Voraussetzungen und innerhalb der Grenzen der Bestimmungen dieser Verordnung Gebrauch machen und müssen daher Rechtsvorschriften erlassen, die nicht gegen den Inhalt und die Ziele der DS-GVO verstoßen (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 28. April 2022, Meta Platforms Ireland, C-319/20, EU:C:2022:322, Rn. 60).

Um die Voraussetzungen und Grenzen zu bestimmen, denen die Vorschriften im Sinne von Art.  88 Abs.  1 und 2 DS-GVO unterliegen, und folglich das Ermessen zu beurteilen, das diese Bestimmungen den Mitgliedstaaten lassen, ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in dem diese Bestimmung steht, sowie die Ziele und Zwecke des Rechtsakts, zu dem sie gehört, zu berücksichtigen sind (Urt. v. 15. März 2022, Autorité des marchés financiers, C-302/20, EU:C:2022:190, Rn. 63).

Was den Wortlaut von Art. 88 Abs. 1 DS-GVO anbelangt, so ergibt sich zunächst aus der Verwendung des Ausdrucks „spezifischere“, dass die Vorschriften im Sinne dieser Bestimmung einen zu dem geregelten Bereich passenden Regelungsgehalt haben müssen, der sich von den allgemeinen Regeln der DS-GVO unterscheidet.

Sodann besteht, wie oben in Rn. 52 ausgeführt, das Ziel der auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassenen Vorschriften darin, die Rechte und Freiheiten der Beschäftigten hinsichtlich der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Beschäftigungskontext zu schützen.

Schließlich ergibt sich aus den verschiedenen Zwecken, zu denen die Verarbeitung der personenbezogenen Daten erfolgen kann und wie sie in Art. 88 Abs. 1 DS-GVO genannt sind, dass sich die „spezifischeren Vorschriften“ im Sinne dieser Bestimmung auf eine sehr große Zahl von Verarbeitungen im Beschäftigungskontext beziehen können, so dass alle Zwecke erfasst werden, zu denen die Verarbeitung personenbezogener Daten im Beschäftigungskontext erfolgen kann. Außerdem verfügen die Mitgliedstaaten, da die Aufzählung dieser Zwecke, wie oben in Rn. 46 festgestellt, nicht erschöpfend ist, über ein Ermessen hinsichtlich der Verarbeitungen, die so diesen spezifischeren Vorschriften unterworfen werden.

Art. 88 Abs. 2 DS-GVO sieht vor, dass die auf der Grundlage von Art. 88 Abs. 1 DS-GVO erlassenen Vorschriften geeignete und besondere Maßnahmen zur Wahrung der menschlichen Würde, der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Person, insbesondere im Hinblick auf die Transparenz der Verarbeitung, die Übermittlung personenbezogener Daten innerhalb einer Unternehmensgruppe oder einer Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, und die Überwachungssysteme am Arbeitsplatz, umfassen müssen.

Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 88 DS-GVO, dass dessen Abs.  2 dem Ermessen der Mitgliedstaaten, die den Erlass „spezifischerer Vorschriften“ nach Abs.  1 dieses Artikels beabsichtigen, einen Rahmen setzt. So dürfen sich diese Vorschriften zum einen nicht auf eine Wiederholung der Bestimmungen der DS-GVO beschränken, sondern müssen auf den Schutz der Rechte und Freiheiten der Beschäftigten hinsichtlich der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Beschäftigungskontext abzielen und geeignete und besondere Maßnahmen zur Wahrung der menschlichen Würde, der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Person umfassen.

Zum anderen ist dabei insbesondere im Hinblick auf die Transparenz der Verarbeitung, die Übermittlung personenbezogener Daten innerhalb einer Unternehmensgruppe oder einer Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, und die Überwachungssysteme am Arbeitsplatz vorzugehen.

Was den Zusammenhang betrifft, in den sich Art.  88 DS-GVO einfügt, ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass diese Vorschrift im Licht des achten Erwägungsgrundes der DS-GVO auszulegen ist, wonach die Mitgliedstaaten, wenn in der DS-GVO Präzisierungen oder Einschränkungen ihrer Vorschriften durch das Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen sind, Teile dieser Verordnung in ihr nationales Recht aufnehmen können, soweit dies erforderlich ist, um die Kohärenz zu wahren und die nationalen Rechtsvorschriften für die Personen, für die sie gelten, verständlicher zu machen.

Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass die Kapitel II und III DS-GVO die Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten bzw. die Rechte der betroffenen Person, die bei jeder Verarbeitung personenbezogener Daten beachtet werden müssen, enthalten (Urt. v. 24. Februar 2022, Valsts ieņēmumu dienests [Verarbeitung personenbezogener Daten zu steuerlichen Zwecken], C-175/20, EU:C:2022:124, Rn. 50).

Insbesondere muss jede Verarbeitung personenbezogener Daten zum einen mit den in Art. 5 DS-GVO aufgestellten Grundsätzen für die Verarbeitung der Daten im Einklang stehen und zum anderen einem der in Art. 6 DS-GVO aufgeführten Grundsätze in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung entsprechen (Urt. v. 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C-439/19, EU:C:2021:504, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Hinsichtlich der Grundsätze in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung sieht Art. 6 DS-GVO eine erschöpfende und abschließende Liste der Fälle vor, in denen eine Verarbeitung personenbezogener Daten als rechtmäßig angesehen werden kann. Daher muss eine Verarbeitung unter einen der in Art. 6 DS-GVO vorgesehenen Fälle subsumierbar sein, um als rechtmäßig angesehen werden zu können (Urt. v. 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C-439/19, EU:C:2021:504, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Auch wenn also die Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung der ihnen durch eine Öffnungsklausel der DS-GVO eingeräumten Befugnis Teile dieser Verordnung in ihr nationales Recht aufnehmen können, soweit dies erforderlich ist, um die Kohärenz zu wahren und die nationalen Rechtsvorschriften für die Personen, für die sie gelten, verständlicher zu machen, darf es sich bei den auf der Grundlage von Art. 88 Abs. 1 DS-GVO erlassenen „spezifischeren Vorschriften“ nicht lediglich um eine Wiederholung der in Art. 6 DS-GVO genannten Bedingungen für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten und der in Art. 5 DS-GVO angeführten Grundsätze für diese Verarbeitung oder um einen Verweis auf diese Bedingungen und Grundsätze handeln.

Die Auslegung, wonach das Ermessen der Mitgliedstaaten beim Erlass von Vorschriften auf der Grundlage von Art. 88 Abs.  1 DS-GVO durch Abs.  2 dieses Artikels begrenzt wird, steht im Einklang mit dem oben in Rn. 51 angeführten Ziel der DS-GVO, eine grundsätzlich vollständige Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten sicherzustellen.

Wie vom Generalanwalt in den Nrn. 56, 70 und 73 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt, kann nämlich die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, „spezifischere Vorschriften“ auf der Grundlage von Art.  88 Abs.  1 DS-GVO zu erlassen, dazu führen, dass es im Anwendungsbereich dieser Vorschriften zu einem Bruch in der Harmonisierung kommt. Die Vorgaben von Art.  88 Abs.  2 DS-GVO spiegeln aber die Grenzen der mit dieser Verordnung in Kauf genommenen Differenzierung dahin wider, dass dieser Bruch in der Harmonisierung nur zulässig sein kann, wenn die verbleibenden Unterschiede mit besonderen und geeigneten Garantien zum Schutz der Rechte und Freiheiten der Beschäftigten hinsichtlich der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Beschäftigungskontext einhergehen.

Um als „spezifischere Vorschrift“ im Sinne von Art.  88 Abs.  1 DS-GVO eingestuft werden zu können, muss eine Rechtsvorschrift folglich die Vorgaben von Art.  88 Abs.  2 DS-GVO erfüllen. Abgesehen davon, dass diese spezifischeren Vorschriften einen zu dem geregelten Bereich passenden Regelungsgehalt haben müssen, der sich von den allgemeinen Regeln der DS-GVO unterscheidet, müssen sie auf den Schutz der Rechte und Freiheiten der Beschäftigten hinsichtlich der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Beschäftigungskontext abzielen und geeignete und besondere Maßnahmen zur Wahrung der menschlichen Würde, der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Person umfassen. Dabei ist insbesondere im Hinblick auf die Transparenz der Verarbeitung, die Übermittlung personenbezogener Daten innerhalb einer Unternehmensgruppe oder einer Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, und die Überwachungssysteme am Arbeitsplatz vorzugehen.

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art.  88 DS-GVO dahin auszulegen ist, dass eine nationale Rechtsvorschrift keine „spezifischere Vorschrift“ im Sinne von Abs. 1 dieses Artikels sein kann, wenn sie nicht die Vorgaben von Abs. 2 dieses Artikels erfüllt.

Zur zweiten Frage

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welche Folgen die Feststellung hat, dass nationale Rechtsvorschriften zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäftigungskontext nicht mit den in Art.  88 Abs.  1 und 2 DS-GVO vorgesehenen Voraussetzungen und Grenzen vereinbar sind.

Insoweit ist daran zu erinnern, dass eine Verordnung nach Art. 288 Abs. 2 AEUV in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, so dass ihre Vorschriften grundsätzlich keiner Durchführungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten bedürfen (Urt. v. 15. Juni 2021, Facebook Ireland u.a., C-645/19, EU:C:2021:483, Rn. 109).

Allerdings eröffnen in der DS-GVO vorgesehene Öffnungsklauseln den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, zusätzliche, strengere oder einschränkende, nationale Vorschriften vorzusehen, und lassen ihnen ein Ermessen hinsichtlich der Art und Weise der Durchführung der betreffenden Bestimmungen (siehe oben, Rn. 51).

Machen die Mitgliedstaaten von der ihnen durch eine Öffnungsklausel der DS-GVO eingeräumten Befugnis Gebrauch, müssen sie von ihrem Ermessen unter den Voraussetzungen und innerhalb der Grenzen der Bestimmungen dieser Verordnung Gebrauch machen und daher Rechtsvorschriften erlassen, die nicht gegen den Inhalt und die Ziele der DS-GVO verstoßen (siehe oben, Rn. 59).

Es ist Sache des für die Auslegung des nationalen Rechts allein zuständigen vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen die in Art.  88 DS-GVO vorgegebenen Voraussetzungen und Grenzen beachten, wie sie oben in Rn. 74 zusammengefasst sind.

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 60 bis 62 seiner Schlussanträge festgestellt hat, scheinen jedoch Bestimmungen wie § 23 Abs. 1 HDSIG und § 86 Abs. 4 HBG, die die Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten davon abhängig machen, dass diese zu bestimmten Zwecken im Zusammenhang mit der Durchführung eines Beschäftigungsbzw. Dienstverhältnisses erforderlich sein muss, die bereits in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 b) DS-GVO aufgestellte Bedingung für die allgemeine Rechtmäßigkeit der Verarbeitung zu wiederholen, ohne eine spezifischere Vorschrift im Sinne von Art. 88 Abs.  1 DS-GVO hinzuzufügen. Solche Bestimmungen scheinen nämlich keinen zu dem geregelten Bereich passenden Regelungsgehalt, der sich von den allgemeinen Regeln der DS-GVO unterscheidet, zu haben.

Sollte das vorlegende Gericht zu der Feststellung gelangen, dass bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen die in Art. 88 DS-GVO vorgegebenen Voraussetzungen und Grenzen nicht beachtet sind, hätte es diese Bestimmungen grundsätzlich unangewendet zu lassen.

Gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts bewirken nämlich die Bestimmungen der Verträge und die unmittelbar geltenden Rechtsakte der Organe in ihrem Verhältnis zum innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten, dass allein durch ihr Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts ohne Weiteres unanwendbar wird (Urt. v. 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 17, vom 19. Juni 1990, Factortame u.a., C-213/89, EU:C:1990:257, Rn. 18, und vom 4. Februar 2016, Ince, C-336/14, EU:C:2016:72, Rn. 52).

In Ermangelung spezifischerer Vorschriften, die die in Art.  88 DS-GVO vorgegebenen Voraussetzungen und Grenzen beachten, wird daher die Verarbeitung personenbezogener Daten im Beschäftigungskontext sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor unmittelbar durch die Bestimmungen der DS-GVO geregelt.

[85] Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass auf eine Verarbeitung personenbezogener Daten wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Art.  6 Abs.  1 UAbs.  1 c) und e) DS-GVO Anwendung finden kann, wonach die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig ist, wenn sie zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, der der Verantwortliche unterliegt, oder für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde.

Nach Art.  6 Abs.  3 DS-GVO muss zum einen, was beide in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 c) und e) DS-GVO genannten Annahmen der Rechtmäßigkeit anbelangt, die Verarbeitung auf dem Unionsrecht oder dem Recht des Mitgliedstaats, dem der Verantwortliche unterliegt, gründen und zum anderen der Zweck der Verarbeitung in dieser Rechtsgrundlage festgelegt oder hinsichtlich der Verarbeitung gemäß Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 e) DS-GVO für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sein, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 8. Dezember 2022, Inspektor v Inspektorata kam Visshia sadeben savet [Zwecke der Verarbeitung personenbezogener Daten – Strafrechtliche Ermittlungen], C-180/21, EU:C:2022:967, Rn. 95).

Der Gerichtshof hat hierzu bereits geurteilt, dass die rechtmäßige Verarbeitung personenbezogener Daten durch den Verantwortlichen auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 e) DS-GVO nicht nur voraussetzt, dass davon ausgegangen werden kann, dass der Verantwortliche eine im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe wahrnimmt, sondern auch, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten für die Wahrnehmung einer solchen Aufgabe auf einer Rechtsgrundlage im Sinne von Art. 6 Abs. 3 DS-GVO beruht (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 20. Oktober 2022, Koalitsia „Demokratichna Bulgaria – Obedinenie“, C-306/21, EU:C:2022:813, Rn. 52).

Gelangt das vorlegende Gericht zu der Feststellung, dass bei den nationalen Bestimmungen über die Verarbeitung personenbezogener Daten im Beschäftigungskontext die in Art.  88 Abs.  1 und 2 DS-GVO vorgegebenen Voraussetzungen und Grenzen nicht beachtet sind, muss es folglich noch prüfen, ob diese Bestimmungen eine Rechtsgrundlage im Sinne von Art. 6 Abs. 3 DS-GVO i.V.m. deren 45. Erwägungsgrund darstellen, die den Anforderungen dieser Verordnung genügt. Ist dies der Fall, darf die Anwendung der nationalen Vorschriften nicht ausgeschlossen werden.

Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 88 Abs. 1 und 2 DS-GVO dahin auszulegen ist, dass nationale Rechtsvorschriften zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte und Freiheiten von Beschäftigten hinsichtlich der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Beschäftigungskontext unangewendet bleiben müssen, wenn sie nicht die in ebendiesem Art.  88 Abs.  1 und 2 vorgegebenen Voraussetzungen und Grenzen beachten, es sei denn, sie stellen eine Rechtsgrundlage im Sinne von Art.  6 Abs. 3 DS-GVO dar, die den Anforderungen dieser Verordnung genügt.