Literaturhinweis : Zukunft der informationellen Selbstbestimmung : aus der RDV 4/2016, Seite 225 bis 226
Stiftung Datenschutz (Hrsg.), Zukunft der informationellen Selbstbestimmung, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2016, 173 S., 38,– €.
Die gesellschaftliche Reflektion über den Datenschutz – woher er kommt, in welchem Stadium er sich befindet und wohin er will – findet an vielen Orten und in vielen Formen statt. Ein Ort soll künftig die mit Steuergeldern errichtete „Stiftung Datenschutz“ sein, die als Form eine „Schriftenreihe der Stiftung Datenschutz“ mit dem Untertitel „DatenDebatten“ gewählt hat, wozu nun Band 1 vorliegt. Das generell bestehende Interesse an dem Büchlein wird durch eine Passage im Vorwort des Stiftungsvorstands Frederick Richter verstärkt: „Texte zur Geschichte gibt es viele. Zustandsbeschreibungen zu seiner Gegenwart sind Legion. Mutmaßungen und Visionen zur Datenschutzzukunft dagegen sind rar.“ Und diese Lücke solle das Büchlein schließen helfen.
Der Rezensent teilt zwar nicht die Analyse, es fehle an Visionen zum Datenschutz, besser zum digitalen Grundrechtsschutz, in einer globalisierten technisierten Gesellschaft. Literarische, zumeist eher düstere Visionen gibt es von George Orwell, Aldous Huxley bis hin zu Marc Elsberg, Dave Eggers oder Juli Zeh. Es gibt Visionen als Roman, als Film, auch als wissenschaftliche Abhandlung. Die dessen ungeachtet im Vorwort geweckte Neugierde verwandelte sich im Lauf der Lektüre immer mehr in Enttäuschung, fehlt es doch dem Sammelband nicht nur an Visionen, sondern hält sich auch dessen Wert für Neuerkenntnisse in Grenzen. Umso wichtiger ist die „Datendebatte“ darüber:
In den ersten Beiträgen lassen sich zwei ehemalige Datenschutzbeauftragte, Hans Peter Bull und Thomas Giesen, mit folgenden Titeln aus: „Hat die ,informationelle Selbstbestimmung‘ eine Zukunft?“ und „Euphorie ist kein Prinzip des Rechtsstaats“. Bulls Antwort am Ende seines Beitrages: „Niemand weiß, wie es weitergeht. Die Welt steht nicht still“. Zwischen seiner Frage und dieser Antwort steht das, was Herr Bull seit Jahren verbreitet, nämlich dass das Datenschutzrecht insbesondere im privaten Bereich hypertrophiert sei; das „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“, das nun durch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) europaweit bekräftigt und modernisiert wurde, gehöre abgeschafft. Mit dem bestehenden Zivilrecht und dem Strafgesetzbuch könne digitalem Fehlverhalten ausreichend Einhalt geboten werden. Herr Giesen fährt noch gewaltigere Geschütze auf und endet mit ähnlichen Botschaften, etwa zur DSGVO: „Sie wird scheitern.“ Vom „Zeitgeist“ „euphorisierte“ „gute Mitmenschen“ würden bei ihrem Kampf gegen Geheimdienste und die „(natürlich ‚bösen‘) Konzerne“ vergessen, dass Datenschutz in unsere rechtsstaatliche Ordnung integriert werden müsse: „Dann aber muss Datenverarbeitung auch endlich als Freiheitsrecht begriffen werden.“ Weitere Überschriften bei Giesen sind „Informationelle Selbstbestimmung ist unmöglich“, „Freiheit für die Daten“, „Alle sind zugleich Opfer und Täter“ und schließlich „Exekutivischer Kontrollwahn“, in dem er totalitäre Tendenzen bei den Datenschützern entlarvt. Originell ist die abschließende Aussage, dass die EU zum Erlass der DSGVO gar keine rechtliche Kompetenz habe.
Als genüge dies nicht an Defaitismus zum Datenschutz, kommen zwei – intelligenter argumentierende – PostPrivacy-Protagonisten zu Wort: Julia Schramm und Michael Seemann. Doch auch deren Texte wiederholen nur das in aktualisiertem Gewand, was die beiden schon vor zehn Jahren vertreten haben: Für den Kontrollwahn der Datenschützer gebe es keinen Grund; die insbesondere von US-Anbietern vorangetriebene Digitalisierung beinhalte mit ihrem Informations- und Verarbeitungsangebot kaum eine Gefahr, sondern eröffne ein Reich der Freiheit und der Selbstverwirklichung.
Wer nun hofft, dass in dem Büchlein diesen Positionen auch widersprochen werde, wird – fast – nicht fündig. Peter Schaar versucht unter dem Titel „Datenschutz ohne Zukunft?“ etwas Optimismus zu verbreiten. Und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fordert die „Verantwortung der InternetGiganten – Algorithmen und Selbstbestimmung“ ein und am Ende ihres Beitrages, mit guten Gründen, dass „die Politik diese Herausforderungen und Handlungsnotwendigkeit erkennen“ müsse. Auch nicht visionär, dafür aber handfest und qualifiziert belegt, kommt der Text von Christiane Schulzki-Haddouti daher, in dem sie eine gewaltig verbesserte Ausstattung der Datenschutzbehörden in Europa fordert.
Die weiteren Texte, z.B. von Jürgen Kühling, Kai von Lewinski, Indra Spieker oder Sabine Trepe, sind fachlich interessant, etwa im Hinblick auf Fragen zu Rechtssystematik oder Psychologie. Visionen enthalten sie nicht. So stellt sich die Frage, was diese Publikation über die „Zukunft der informationellen Selbstbestimmung“ soll. Man könnte den Eindruck haben, dass hier das Bundesinnenministerium, das den Vorsitz im Verwaltungsrat der Stiftung Datenschutz innehat, publizistisch nochmals eine Breitseite gegen die DSGVO abfeuern wollte, zu der es seine Bedenkenträgerpositionen politisch nicht durchsetzen konnte. Doch diese Lesart würde einigen der Autorinnen und Autoren nicht gerecht.
Jedenfalls ist das Büchlein Ausdruck für den Umstand, dass die Stiftung Datenschutz immer noch nicht ihre Bestimmung gefunden hat. Ihre ursprüngliche Funktion, analog zur Stiftung Warentest eine Test- und Zertifizierungsumgebung für digitalen Grundrechts- und Verbraucherschutz zu schaffen, hat sie bisher verspielt.
Dass hierfür die DSGVO fast ideale rechtliche Rahmenbedingungen schafft, hat die Stiftung womöglich noch nicht erkannt; plausibler ist, dass ihr Verwaltungsrat dies einfach nicht wünscht, was sehr zu bedauern ist.
Positive Visionen zum digitalen Grundrechtsschutz – insofern ist dem Vorwort zuzustimmen – gibt es bisher noch nicht im Übermaß. Diese sollten aber von dem in dem Büchlein verbreiteten Eindruck befreit sein, dass Datenschutz auf hergekommenen Privatsphärenschutz reduziert werden kann und nichts mit „Verarbeitungsfreiheit“ zu tun hat. Genau ein solches Konzept verfolgen von Anfang an das deutsche Bundesverfassungsgericht mit der „informationellen Selbstbestimmung“ und der Nestor des deutschen Datenschutzes Spiros Simitis mit seinem Credo, Datenschutz als gesellschaftliches Kommunikationsrecht zu verstehen und zu leben.
Datenschutz hat sowohl eine individuelle wie auch eine demokratisch gesellschaftliche und rechtsstaatliche Dimension. Er steht sowohl in einem Spannungs- wie auch in einem Ergänzungsverhältnis zur Meinungs- und Informationsfreiheit und ist ein zentraler Baustein eines umfassenderen digitalen Grundrechtsschutzes. Der in dem Büchlein mehrfach geäußerte Totalitarismusvorwurf gegen „den Datenschutz“ zeugt von einer eindimensionalen Sichtweise und ignoriert, dass von Anfang an bis zur DSGVO der Abwägungsaspekt im Vordergrund stand und steht. Zu den Dimensionen des Datenschutzes gehören das Diskriminierungsverbot und der Anspruch auf solidarischen Umgang in einer sich entsolidarisierenden Informationsgesellschaft (vgl. Art. 9 DSGVO). Er begründet Teilhaberechte und einen staatlichen Schutzauftrag. Damit wird durch einen modernen Datenschutz eine Zukunftsvorstellung für unser Leben und Arbeiten beschrieben, die sich nicht, wie viele Autoren des vorliegenden Stiftungsbüchleins, an einem unkontrollierten, weil angeblich unkontrollierbaren Silicon-Valley-Kapitalismus orientiert, sondern an einer auf humanistischen Grundlagen beruhenden demokratisch gestalteten Informationsgesellschaft. Ein solcher Blick in die Zukunft muss sich des derzeit global in der Informationstechnik ausgetragenen zentralen Konflikts bewusst sein, nämlich dem einer werteorientierten modernen Gesellschaftsordnung mit Kräften, die eine weitgehend ungezügelte Technikentfaltung propagieren und praktizieren. Diese Kräfte sind außerhalb von Europa (noch) dominant, nicht nur in Südostasien und insbesondere in China, sondern auch in den USA. Es ist erschreckend, dass sich die steuerfinanzierte Stiftung Datenschutz – möglicherweise nicht vollständig bewusst – mit seinem Büchlein zum Sprachrohr dieser Kräfte macht.
(Thilo Weichert, Kiel)