DA+

Urteil : Rechtmäßigkeit einer außerordentlichen Kündigung eines Vorstandes wegen Weiterleitung sensibler dienstlicher E-Mails an die eigene private Adresse (OLG München, Urt. v. 31.07.2024) : aus der RDV 6/2024, Seite 351 bis 355

(OLG München, Urteil vom 31. Juli 2024 – 7 U 351/23 –)

Archiv RDVRechtsprechung
Lesezeit 18 Min.

Relevanz für die Praxis

Das Urteil stellt klar, dass die Weiterleitung beruflicher E-Mails durch einen Vorstand an die eigene private Mail Adresse rechtswidrig ist und einen schwerwiegenden Verstoß gegen die DS-GVO begründet. In der prophylaktischen Sicherung der Mails, um sich später gegen potenzielle Vorwürfe verteidigen zu können, sah das Gericht keinen hinreichenden Grund für die Weiterleitung. Der Kläger habe, solange er noch Vorstand sei, über seine berufliche Mail-Adresse Zugang zu den Unterlagen gehabt. Nach seiner Abberufung habe er ein Einsichtsrecht aus §  810 BGB. Der Verstoß sei schwerwiegend genug, um eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen.

  1. Die Weiterleitung sensibler beruflicher E-Mails an private Mail-Accounts stellt einen schwerwiegenden Verstoß gegen die DS-GVO und einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB dar.
  2. Für eine prophylaktische Selbsthilfe zum Schutz vor potenziellen Schadensersatzansprüchen besteht mit Blick auf das Einsichtnahmerecht aus §  810 BGB keine Veranlassung. Eine Rechtfertigung der Weiterleitung über Art. 6 Abs. 1 lit. f) DS-GVO kommt daher nicht in Betracht.

(Nicht amtliche Leitsätze)

Aus den Gründen:

Die Weiterleitung der streitgegenständlichen E-Mails auf den privaten Account des Klägers ist auch ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB.

Gemäß §  626 Abs.  1 BGB kann das Dienstverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

a. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist (vgl. BGH, Urt. v. 29.01.2001 – II ZR 360/99, Rn. 9 zum Vorstand einer Genossenschaft, BGH, Urt. v. 02.06.1997 – II ZR 101 /96, Rn. 6 zum Geschäftsführer einer GmbH, zu Arbeitnehmern vgl. auch BAG, Urt. v 19.04.2012 – 2 AZR 186/11, Rn. 20, Weidenkaff in Grüneberg, BGB, 83. Auflage, München 2024, Rn. 38 zu § 626 BGB). Als wichtiger Grund ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung dabei neben der Verletzung vertraglicher Hauptpflichten auch die schuldhafte Verletzung von Nebenpflichten „an sich“ geeignet (vgl. BAG, Urt. v. 08.05.2014 – 2 AZR 249/13, Rn. 19).

aa. Zur Begründung eines wichtigen Grundes „an sich“ kann im vorliegenden Fall jedoch nicht auf § 10 Abs. 1 DV abgestellt werden.

Nach § 10 Abs. 1 UAbs. 1 DV ist der Vorstand verpflichtet, „alle betrieblichen Angelegenheiten und Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse“, die ihm während seiner Tätigkeit bekannt wurden, vertraulich zu behandeln. Insbesondere ist er verpflichtet, „vertrauliche Informationen dieser Art“ streng geheim zu halten, sie nicht zu verbreiten oder zu kommunizieren und sie auch nicht zu verwerten. Bei der Auslegung des § 10 Abs. 1 DV ist zu beachten, dass mit dieser Regelung der Umfang der Verschwiegenheitsverpflichtung des Vorstands bestimmt werden soll.

Die Verschwiegenheitsverpflichtung des Vorstands wird in § 93 Abs. 1 S. 3 AktG geregelt, der stipuliert, dass Vorstandsmitglieder über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Stillschweigen zu bewahren haben. Da diese Vorschrift zwingendes Recht ist, kann sie nicht ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Die in § 93 Abs. 1 S. 3 AktG normierte Verschwiegenheitsverpflichtung kann aber auch nicht durch Satzung, Geschäftsordnung oder Anstellungsvertrag erweitert werden, wie sich aus § 23 Abs. 5 AktG ergibt (vgl. Fleischer, in: BeckOGK AktG, Stand 01.02.2024, Rn. 202 zu § 93 AktG; Spindler, in: Münchener Kommentar zum AktG, 6. Auflage, München 2023, Rn. 143 zu § 93 AktG; Schmidt, in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Auflage, München 2020, Rn.  62 zu §  93 AktG; vgl. auch BGH, Urt. v. 05.06.1975 – II ZR 156/73, Rn. 8 f. zur Verschwiegenheitspflicht eines Aufsichtsrats nach § 116 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG a.F.). Stellt also die Weiterleitung der streitgegenständlichen E-Mails an den privaten E-Mail-Account des Klägers keine Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung des Vorstands nach §  93 Abs. 1 S. 3 AktG dar, so ist unbeachtlich, wenn der Kläger gegen etwaig weitergehende Verpflichtungen aus § 10 Abs. 1 DV verstoßen haben sollte.

Nach der Rechtsprechung des BGH handelt es sich bei „vertrauliche(n) Angaben und Geheimnisse(n) der Gesellschaft“ i.S.d. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG um nicht allgemein bekannte (offenkundige) Tatsachen, an deren Geheimhaltung ein objektives Interesse des Unternehmens besteht (vgl. BGH, Urt. v. 26.04.2016 – IX ZR 108/15, Rn. 31).

Alle vom Kläger weitergeleiteten streitgegenständlichen E-Mais bezogen sich auf „betriebliche Angelegenheiten“ i.S.d. § 10 Abs. 1 UAbs. 1 DV und beinhalteten keine offenkundigen Tatsachen. So betraf die E-Mail vom 23.04.2021, 16:27 Uhr laut Anl. B 8 das Verhalten u.a. des Mitvorstands … bezüglich der Behandlung von Gehaltsabrechnungen nicht nur des Klägers, sondern auch des früheren Vorstandsvorsitzenden der Beklagten … . In der E-Mail vom 10.05.2012 laut Anl. B 7 ging es um die Behandlung von Forderungen des Klägers gegen die Beklagte, um Schriftwechsel mit der Steuerberatungsgesellschaft der Beklagten sowie um Kompetenzstreitigkeiten mit dem Mitvorstand … Gegenstand der E-Mail vom 31.05.2021, 12:10 Uhr (Anl. B 2) war eine Anfrage der … AG nach dem Geldwäschegesetz und eventuell drohende Maßnahmen der BAFIN gegen die Beklagte. Die E-Mail vom 31.05.2021, 17:47 Uhr (Anl. B 9) bezog sich auf eine Zuständigkeitsstreitigkeit zwischen dem Kläger und Mitarbeitern der …-Gruppe sowie die Provisionsplanung für 2021. Letztere war auch Thema der am 16.06.2021 um 11:13 Uhr vom Kläger versandten E-Mail (Anlage B 5), der u.a. eine als „confidentiel“ überschriebene Präsentation betreffend Fragen zur Provisionierung sowie das Protokoll eines internen Meetings vom 07.06.2021 zu dieser Problematik beigefügt war. Die E-Mails vom 18.06.2021, 17.17 Uhr (Anl. B 3) und vom 21.06.2021, 12:34 Uhr laut Anl. B 6 betrafen den von einem Mitarbeiter der Beklagten (…) gegen diese geltend gemachten Anspruch auf Provisionszahlungen. In der E-Mail vom 24.06.2021, 11:51 Uhr (Anlage B 1) waren wiederum Umsatzerlöse und Bonifizierungsgrundlagen für diesen Mitarbeiter thematisiert. Dieser E-Mail beigefügt waren E-Mail-Verkehr des Klägers mit Mitarbeitern der Beklagten sowie die Kopie eines Lizenzvertrages mit dem Kundenunternehmen … GmbH. Gegenstand der am 28.06.2021 um 13:26 Uhr versandten E-Mail laut Anl. B 4 an … und … von der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft … GmbH waren Spesenzahlungen der Beklagten an den Kläger.

Ob auch ein objektives Geheimhaltungsinteresse der Beklagten an diesen Tatsachen bestand, kann dahinstehen, da es jedenfalls an einer Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung des §  93 Abs.  1 S. 3 AktG durch den Kläger fehlt. Wann eine Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung des § 93 Abs. 1 S. 3 AktG vorliegt, ergibt sich aus dem objektiven Tatbestand des § 404 AktG, der Verletzungen der Verschwiegenheitsverpflichtung des § 93 Abs. 1 S. 3 AktG sanktioniert. Demzufolge ist die Verschwiegenheitsverpflichtung verletzt, wenn ein Geheimnis der Gesellschaft unbefugt offenbart (§ 404 Abs. 1 AktG) oder verwertet (§ 404 Abs. 2 S. 2 AktG) wird. Offenbart wiederum wird ein Geheimnis, wenn es jemandem, der dieses Wissen noch nicht hat (Unbefugter), mitgeteilt oder sonst in einer Weise zugänglich gemacht wird und er somit die Möglichkeit der Kenntnisnahme erhält. Die Art und Weise der Preisgabe ist irrelevant. Es kommt allein darauf an, dass der Adressat die nicht mehr abschirmbare Möglichkeit der Kenntnisnahme hat (vgl. Hefendehl, in: BeckOGK AktG, Stand 01.06.2024, Rn. 54 zu § 404 AktG). Diese Voraussetzungen sind im streitgegenständlichen Fall durch die Weiterleitung der E-Mails an den privaten E-Mail-Account des Klägers nicht erfüllt, da der Kläger den Inhalt der E-Mails unstreitig keinem Dritten mitgeteilt oder zugänglich gemacht hat. Die Speicherung auf einem Freemail-Server reicht hierfür nicht aus. Auch eine Verwertung der Geheimnisse durch den Kläger ist unstreitig nicht erfolgt.

In Ermangelung einer Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung des § 93 Abs. 1 S. 3 AktG kommt es daher nicht mehr darauf an, ob der Kläger die in § 10 Abs. 1 UAbs. 3 lit. a) DV stipulierte Pflicht zur strengen Geheimhaltung vertraulicher Informationen verletzt hat, da eine Erweiterung der Geheimhaltungsverpflichtung des § 93 Abs. 1 S. 3 AktG durch den Vorstandsdienstvertrag nicht möglich ist.

bb. Auch wenn der Kläger nach alledem nicht gegen die ihm als Vorstand obliegende aktienrechtliche Verschwiegenheitsverpflichtung aus § 93 Abs. 1 S. 3 AktG verstieß, so hat er doch durch die Weiterleitung der streitgegenständlichen E-Mails gegen seine sich aus § 91 Abs. 1 S. 1 AktG ergebende Sorgfaltspflicht, die in Gestalt der Legalitätspflicht vom Vorstand eigene Regeltreue fordert, verstoßen. Denn wie das Landgericht richtig annahm (LGU S. 14), stellt die Weiterleitung der E-Mails auf den privaten Account des Klägers und die dortige Speicherung eine Verarbeitung i.S.d. Art.  4 Nr.  2 DS-GVO dar, die nicht durch eine Einwilligung der betroffenen Personen gedeckt war (Art. 6 Abs. 1 lit. a) DS-GVO). Diese Weiterleitung war auch nicht zur Wahrung der berechtigten Interessen des Klägers erforderlich (Art. 6 Abs. 1 lit. f) DS-GVO). Gegen diese zutreffende rechtliche Wertung des Landgerichts hat die Berufung nichts erinnert, vielmehr hat der Kläger in seiner Berufungserwiderung/Anschlussberufungsbegründung (dort S. 13, Bl. 32 d.A.) sogar selbst eingeräumt, dass ihm nunmehr bewusst sei, dass eine Weiterleitung von dienstlichen E-Mails auf seinen privaten E-Mail-Account nicht zulässig sei.

(1) Zwar ist nicht jeder Regelverstoß und damit auch nicht jeder Verstoß gegen Vorschriften der Datenschutzgrundverordnung schon „an sich“ als wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB geeignet. Dies ist jedoch zumindest dann der Fall, wenn – wie streitgegenständlich – die unter Missachtung der Regelungen der DS-GVO erfolgte Weiterleitung der E-Mails an den privaten E-Mail-Account des Klägers sensible Daten der Beklagten und anderer Dritter betrifft. Um solche sensiblen Daten handelte es sich vorliegend, da es in den E-Mails unter anderem um eine geldwäscherechtliche Bankanfrage, Provisisonsansprüche von Mitarbeitern (…), Gehaltsabrechnungen eines früheren Vorstandsvorsitzenden (…), Planungen der Beklagten zur Verprovisionierung ihrer Mitarbeiter und Zuständigkeitsstreitigkeiten im Vorstand der Beklagten ging. Zu berücksichtigen war darüber hinaus, dass die Weiterleitung nicht ein singulärer Vorfall war, sondern neun E-Mails weitergeleitet wurden.

(2) Die Weiterleitung der E-Mails wird auch nicht dadurch gerechtfertigt, dass der Kläger – jedenfalls seiner Vorstellung nach – „nur solche E-Mails weiterleitete, die aufgrund der besorgniserregenden Veränderungen im Betrieb der Beklagten (…) unentbehrlich waren, um später beweisen zu können, dass er selbst keine zur Haftung führenden Fehler begangen hat“ (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 7, Bl. 31 d.A.). Denn für eine solche prophylaktische Selbsthilfe bestand – wie das Landgericht richtig ausführte (LGU S. 14 f.) – keine Veranlassung. Solange der Kläger noch Vorstand war, hatte er qua Amt Zugriff auf die Unterlagen der Beklagten. Nach seiner Abberufung als Vorstand hat er dagegen einen Einsichtsanspruch aus § 810 BGB, soweit er Unterlagen der Beklagten für seine Verteidigung benötigen sollte, wobei der Kläger durch die die Beklagte treffenden handelsund steuerrechtlichen Aufbewahrungspflichten auch vor unzeitiger Vernichtung der Unterlagen hinreichend geschützt ist (zur fehlenden Rechtfertigung prophylaktischer Selbsthilfe in einem vergleichbaren Fall eines Arbeitnehmers vgl. auch BAG, Urt. v. 08.05.2014 – 2 AZR 249/13, Rn. 33 und LArbG Hamm, Urt. v. 28.05.2020 – 15 Sa 2008/19, Rn. 63).

Nach alledem kann in der streitgegenständlichen Weiterleitung der E-Mails ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB „an sich“ liegen. Ein Vorstand ist demnach nicht anders zu beurteilen als ein Arbeitnehmer, dem es ohne Einverständnis des Arbeitgebers ebenso verwehrt ist, sich betriebliche Unterlagen oder Daten anzueignen oder diese für betriebsfremde Zwecke zu vervielfältigen (vgl. BAG Urt. v. 08.05.2014 – 2 AZR 249/13, Rn. 32).

b. Nach Feststellung, dass der streitgegenständliche Sachverhalt „an sich“, d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist, bedarf es der Prüfung, ob der Gesellschaft die Fortsetzung des Anstellungsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (vgl. BGH, Urt. v. 29.01.2001 – II ZR 360/99, Rn. 9 zum Vorstand einer Genossenschaft, BGH, Urt. v. 02.06.1997 – II ZR 101 /96, Rn.  6 zum Geschäftsführer einer GmbH, zu Arbeitnehmern BAG, Urt. v. 19.04.2012 – 2 AZR 186/11, Rn. 20, Weidenkaff, in: Grüneberg, BGB, 83. Auflage, München 2024, Rn. 38 zu § 626 BGB). Dabei ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse der Gesellschaft an der sofortigen Beendigung des Vorstandsanstellungsvertrages gegen das Interesse des Vorstands an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind dabei u.a. regelmäßig die Schwere der Pflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Vorstands, das Ausmaß des Schadens, eine mögliche Wiederholungsgefahr, die Dauer des Vorstandsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf sowie die sozialen Folgen für das Vorstandsmitglied (vgl. Fleischer, in: BeckOGK AktG, Stand 01.02.2024, Rn. 187 zu § 84 AktG).

aa. Demnach war in die Abwägung zu Gunsten des Klägers miteinzubeziehen, dass dieser bis zur außerordentlichen fristlosen Kündigung vom 11.10.2021 bereits mehr als acht Jahre (seit 01.07.2013) beanstandungslos als Vorstand der Beklagten tätig war und ausweislich des Handelsregisterauszugs laut Anl. K 2 zum Zeitpunkt der Kündigung bereits ein fortgeschrittenes Lebensalter von nahezu 64 Jahren erreicht hatte. Allerdings war bei der Berücksichtigung der sozialen Umstände gleichzeitig zu beachten, dass nach dem unbestrittenen Vortrag der Beklagten (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 20.06.2022, S. 2, Bl. 44 d.A.) der Kläger bereits seit 07.02.2022 eine Neuanstellung hat.

Zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen war ferner, dass die von ihm weitergeleiteten Daten weder zur Kenntnis an Dritte gelangten noch die Beklagte wegen der Verstöße gegen die DS-GVO sanktioniert wurde. Darüber hinaus handelte der Kläger auch nicht heimlich, sondern machte dadurch, dass er seine private E-Mail-Adresse in CC setzte, für die anderen am E-Mail-Wechsel Beteiligten erkennbar, dass er die E-Mails an seinen privaten Account weiterleitete. Daraus lässt sich entnehmen, dass er subjektiv der Ansicht war, dazu berechtigt zu sein.

bb. (1) Entgegen der Ansicht des Klägers wäre die von ihm behauptete (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 3 erster Absatz, Bl. 27 d.A.), von der Beklagten mit Nichtwissen bestrittene (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 20.06.2022, S. 4, Bl. 46 d.A.) und damit vom Senat unterstellte Absprache mit dem vormaligen Vorstandsvorsitzenden …, „wichtige, seine (d.h. des Klägers) dienstliche Position betreffende“ E-Mails auf seinen privaten Account weiterzuleiten, nicht zu Gunsten des Klägers in die Abwägung einzustellen. Denn eine solche (unterstellte) Absprache innerhalb des Vorstands, entgegen den Vorgaben der DS-GVO und damit gesetzeswidrig mit vertraulichen E-Mails umzugehen, entlastet den Kläger nicht. Der Vorstand kann sich nicht durch Absprache seiner Mitglieder untereinander von zwingenden Vorgaben der DS-GVO dispensieren. Vielmehr ergibt sich aus der vom Kläger vorgetragenen Unrechtsabrede zweier Vorstände, dass die Datenschutzverstöße vom Kläger (und …) planmäßig und systematisch begangen wurden und es sich damit gerade nicht nur um eine einmalige Fehlleistung des Klägers handelt. Die Abrede zwischen … und dem Kläger hat für die Beklagte auch deshalb keine Bedeutung, da gemäß §  112 AktG die Gesellschaft gegenüber dem Vorstand durch den Aufsichtsrat vertreten wird.

(2) Da damit eine von der DS-GVO abweichende Praxis von Vorständen der Beklagten zu keiner Entlastung führt, kommt es auch schon deshalb auf die vom Kläger im Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 02.05.2022, dort. S. 4-6, Bl. 28-30 d.A., und in der Berufungserwiderung und Anschlussberufungsbegründung vom 22.06.2023, dort S. 7 und 8, Bl. 26 f. d.A., aufgeführten Weiterleitungen bzw. den Versand von E-Mails durch die (zeitweiligen) Mitvorstände…, … und … an den privaten Account des Klägers nicht an.

(3) Soweit es sich um Weiterleitungen an den privaten Account des Klägers durch Mitarbeiter einer Schwestergesellschaft oder Organe der Muttergesellschaft der Beklagten handelte, ist dies schon deshalb irrelevant, da es im Verhältnis der Parteien zueinander nicht darauf ankommt, wie Dritte, zu denen auch Schwestergesellschaften und die Muttergesellschaft der Beklagten sowie deren Organe zählen, mit der Weiterleitung von E-Mails verfahren. Etwaige Weiterleitungen von … oder … an den privaten Account des Klägers sind daher schon deshalb ohne Bedeutung (unabhängig davon, dass ausweislich der streitgegenständlichen E-Mail-Verläufe laut Anl. B 1 – B 9 – wie unten unter (4) noch darzustellen sein wird – jedenfalls … E-Mails ausschließlich an die dienstliche Adresse des Klägers richtete).

(4) Entlastend könnte sich allenfalls auswirken, wenn der Aufsichtsrat der Beklagten von den praktizierten Datenschutzverstößen des Klägers in Form der Weiterleitung von E-Mails durch den Kläger auf seinen privaten E-Mail-Account Kenntnis gehabt hätte und diese gebilligt oder zumindest geduldet hätte. Davon kann zur Überzeugung des Senats jedoch keine Rede sein.

Aufgrund des Verlaufs der streitgegenständlichen neun E-Mail-Konversationen geht der Senat nämlich davon aus, dass – wie die Beklagte richtig behauptete (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 20.06.2022, S. 5, Bl. 47 d.A.) – es in allen streitgegenständlichen neun E-Mail-Verläufen laut Anl. B 1 – B 9 nicht Organe oder Mitarbeiter der Beklagten bzw. Organe anderer Gesellschaften der …-Gruppe, sondern der Kläger selbst war, der seine private E-Mail-Adresse in CC setzte, um die E-Mail-Korrespondenz zu Beweissicherungszwecken in Kopie auf seinen privaten gmx-Account zu leiten […].

(5) Auch die vom Kläger behauptete Praxis von Mitarbeitern der Beklagten, mittels privater E-Mail-Accounts miteinander auch in dienstlichen Angelegenheiten zu kommunizieren, kann das klägerische Vorgehen nicht in einem milderen Licht erscheinen lassen. Denn aus den streitgegenständlichen E-Mail-Verläufen und den vom Kläger darüber hinaus in Bezug genommenen E-Mails (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 4 – 6, Bl. 28 – 30 d. A.) ergibt sich – wie oben unter (4) ausgeführt – eine solche Praxis gerade nicht. Im Übrigen könnte eine solche (unterstellte) Praxis den Kläger auch nicht entlasten, da er als Vorstand gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 AktG nicht nur zu eigenem gesetzeskonformen Handeln verpflichtet war (Legalitätspflicht), sondern auch im Rahmen der ihm obliegenden Legalitätskontrollpflicht dafür Sorge zu tragen hatte, dass die Mitarbeiter der Beklagten gesetzeskonform und damit in Übereinstimmung mit der DS-GVO agierten (vgl. Koch, in: ders. AktG, 18. Auflage, München 2024, Rn. 9 zu § 93 AktG).

(6) Dass – wie der Kläger vorträgt – keine Wiederholungsgefahr bestanden hätte, wenn der Kläger vom Aufsichtsrat auf die Rechtswidrigkeit seines Vorgehens hingewiesen oder deswegen abgemahnt worden wäre, weil er dann sein Verhalten geändert hätte, entlastet ihn ebenfalls nicht. Die Wiederholungsgefahr ergibt sich allein aus der erheblichen Anzahl weitergeleiteter E-Mails (neun E-Mail-Verläufe innerhalb von etwas mehr als zwei Monaten) und dem systematischen Verhalten des Klägers (dazu oben unter (4)).

Auf eine vom Kläger behauptete Änderung seines Verhaltens im Falle einer Abmahnung durch die Beklagte kann sich der Kläger nicht berufen, da nach der Rechtsprechung des BGH eine Abmahnung eines Vorstands vor dem Ausspruch einer außerordentlichen fristlosen Kündigung eines Vorstandsdienstvertrages auch nach der Schuldrechtsreform gerade nicht erforderlich ist (vgl. BGH, Beschl. v. 02.07.2007 – II ZR 71/06). Im Übrigen hat der Senat – obwohl es demnach entscheidungserheblich gar nicht mehr darauf ankommt – im Hinblick auf die vom Kläger in der E-Mail vom 30.09.2021 laut Anl. B 10 abgegebene Stellungnahme erhebliche Zweifel an einer Verhaltensänderung. Denn in der E-Mail entschuldigt und relativiert der Kläger seine Rechtsverstöße nach seiner Überführung damit, dass er die streitgegenständlichen E-Mail-Verläufe ja auch hätte ausdrucken können und dies mittlerweile auch getan habe, was natürlich genauso wenig zulässig ist wie die vorangegangene Archivierung in elektronischer Form. Letztendlich erklärte der Kläger damit nur, dass er einen Datenschutzverstoß durch einen anderen genauso gravierenden perpetuiert habe.

cc) Zu Lasten des Klägers war in die Abwägung miteinzustellen, dass die weitergeleiteten E-Mails äußerst sensible Daten (Provisionspläne, Gehalts- und Provisionsabrechnungen, Compliance-Vorgänge, Auseinandersetzungen zwischen Vorständen der Beklagten) enthielten, an deren Vertraulichkeit die Beklagte ein sehr hohes Interesse hatte und die sich auch nicht nur auf das Verhältnis zwischen den Parteien bezogen, sondern darüber hinaus auch Dritte betrafen (insbesondere den Mitarbeiter …), die davon ausgehen konnten, dass ihre Daten nicht auf private E-Mail-Accounts wie dem des Klägers gelangten.

Zu Lasten des Klägers war darüber hinaus in die Abwägung einzustellen, dass es sich – wie oben unter bb (4) ausgeführt – nicht um ein singuläres Fehlverhalten, sondern um ein – nach dem eigenen Vortrag des Klägers – offenbar mit dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden … abgesprochenes systematisches Vorgehen des Klägers handelte. Dafür spricht auch die mit neun relativ hohe Anzahl von streitgegenständlichen EMail-Verläufen in einem Zeitraum von nur gut zwei Monaten.

Gegen den Kläger war auch zu werten, dass es nach dem eigenen Vortrag des Klägers erklärtes Ziel der von ihm begangenen DS-GVO-Verstöße war, Material für die Verbesserung seiner Argumentationsbasis in vom Kläger offensichtlich erwarteten Haftungsprozessen der Beklagten gegen ihn zu sammeln (vgl. Schriftsätze des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 7 erster Absatz, Bl. 31 d.A. und vom 07.07.2022, S. 4 dritter Absatz, Bl. 57 d.A.), die Rechtsbrüche also ausdrücklich gegen die Beklagte gerichtet waren.

Schließlich war zu Lasten des Klägers auch noch zu berücksichtigen, dass zwischen dem Ausspruch der außerordentlichen fristlosen Kündigung am 11./13.10.2021 und dem Auslaufen des Vorstandsdienstvertrages mit Ablauf des 14.09.2021 noch ein langer Zeitraum, nämlich über elf Monate, gelegen hätte. Eine ordentliche Kündigung sieht der DV nicht vor.

dd) Bei einer Zusammenschau aller dieser Umstände und unter Abwägung der Interessen des Klägers an der Fortsetzung des Vorstandsdienstverhältnisses bis zum Auslaufen des Vorstandsdienstvertrages einerseits und der Beklagten an der schnellstmöglichen Beendigung des Dienstverhältnisses andererseits ist der Senat der Ansicht, dass es der Beklagten nicht zumutbar war, nach Feststellung der Rechtsverstöße des Klägers noch weitere elf Monate mit diesem als ihrem Vorstand zusammenzuarbeiten. Dies stützt der Senat insbesondere darauf, dass es um eine Vielzahl von höchst sensiblen Daten der Beklagten und Dritter ging und gleichzeitig das DS-GVO widrige Weiterleiten nach dem eigenen Vortrag des Klägers ausschließlich der Vorbereitung einer erwarteten gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen den Parteien dienen sollte. Es ist nicht ersichtlich, wie unter solchen Umständen die Beklagte noch das notwendige Vertrauen in den Kläger haben sollte, dass dieser mit seinen Handlungen – wie nach § 93 Abs. 1 S. 2 AktG geboten – „zum Wohle der Gesellschaft“ handelt, wenn der Kläger zuvor in rechtswidriger Weise systematisch Material gegen die Beklagte zu deren Nachteil sammelt. Ohne ein solches Vertrauen konnte der Beklagten aber nicht zugemutet werden, über den noch erheblichen Zeitraum von mehr als elf Monaten bis zum Auslaufen des Vorstandsdienstvertrages mit dem Kläger als ihrem Vorstand zusammenzuarbeiten. Daran ändern auch die zum Kündigungszeitpunkt bereits recht lange dauernde erfolgreiche Vorstandstätigkeit des Klägers für die Beklagte und die anderen für den Kläger zu berücksichtigenden Umstände nichts.

Da nach alledem die außerordentliche fristlose Kündigung innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB ausgesprochen wurde, ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB vorlag und eine vorherige Abmahnung nach der Rechtsprechung des BGH nicht erforderlich war, endete das Vorstandsdienstverhältnis des Klägers mit der Beklagten mit Zugang der Kündigungserklärung am 13.10.2021 und war deshalb auf die Berufung der Beklagten hin der Feststellungsantrag zu 2) unter diesbezüglicher Abänderung des landgerichtlichen Urteils abzuweisen.

Zur Vertiefung

[Urteil] Erforderliche Sicherheitsmaßnahmen beim Versand von E-Mails im geschäftlichen Verkehr = RDV 1/2024

[Urteil] Beweisverwertungsverbot im Kündigungsschutzprozessbei datenschutzrechtlich unzulässiger Videoüberwachung =RDV 5/2023

[Urteil] Unwirksamkeit einer Kündigung des Datenschutzbeauftragten wegen reiner Amtspflichtverletzung = RDV 1/2023