Rechtsprechnung : Offenlegung von Gesundheitdaten im Betrieblichen Eingliederungs-Management
Ein bEM muss datenschutzkonform durchgeführt werden, insbesondere dürfen Gesundheitsdaten nur mit ausdrücklicher Einwilligung weitergegeben werden. Fehlerhafte Hinweise oder unzulässige Datenweitergaben können eine Kündigung unwirksam machen.
(Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Oktober 2021 – 4 Sa 70/20 –)
1. Aus § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX (in der bis zum 09.06.2021 geltenden Fassung, seit 10.06.2021: Satz 4) folgt nicht nur, dass der Arbeitnehmer auf die Art und den Umfang der im betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen ist. Vielmehr ergibt sich hieraus auch, dass die Datenverarbeitung datenschutzkonform zu erfolgen hat.
2. Die Erreichung der Ziele des bEM erfordert nicht, dass nicht im bEM-Verfahren beteiligten Vertretern des Arbeitgebers vom Arbeitnehmer im Verfahren mitgteilte Diagnosedaten bekanntzumachen wären. Wenn dem Arbeitnehmer im Rahmen des § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX (in der bis zum 09.06.2021 geltenden Fassung, seit 10.06.2021: Satz 4) dennoch eine Einwilligung in eine solche Datenoffenlegung abverlangt wird, ist im besonderen Maße auf die Freiwilligkeit hinzuweisen.
3. Wird in dem Hinweis über die Datenerhebung und Datenverwendung der fälschliche Eindruck erweckt, dass Gesundheitsdaten an Vertreter des Arbeitgebers weitergegeben werden können, die nicht am bEM Verfahren beteiligt sind, geht dies zu Lasten des Arbeitgebers. Die vom Arbeitgeber verursachte Fehlvorstellung steht einer ordnungsgemäßen Einleitung des bEM entgegen.
(Bestätigung und Fortentwicklung von LAG Baden-Württemberg 28.07.2021 – 4 Sa 68/20 –)
Tenor:
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 19.11.2020 (1 Ca 108/20) wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen arbeitgeberseitigen, krankheitsbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers sowie hilfsweise über eine Weiterbeschäftigung des Klägers.
Der am 00.00.0000 geborene, ledige und kinderlose Klä ger ist bei der Beklagten in deren Betrieb in R. seit 11. August 2014 beschäftigt als Produktionsfacharbeiter (EG 7 ERA) zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsentgelt iHv. zuletzt 3.442,73 Euro.
Die Beklagte beschäftigt in ihrem Betrieb in R. ca. 8.000 Mitarbeiter. Ein Betriebsrat ist in diesem Betrieb gebildet.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger mit Schreiben vom 5. März 2020, dem Kläger am selben Tag zugegangen, ordentlich zum 30. Juni 2020. Gegen diese Kündigung richtet sich die vorliegende Kündigungsschutzklage, die am 25. März 2020 beim Arbeitsgericht einging.
Die Beklagte stützt die Kündigung auf krankheitsbedingte Gründe. Der Kläger war im Jahr 2016 an insgesamt 31,7 Arbeitstagen, im Jahr 2017 an insgesamt 51 Arbeitstagen, im Jahr 2018 an insgesamt 42 Arbeitstagen und im Jahr 2019 an insgesamt 43 Arbeitstagen arbeitsunfähig krank. Für sämtliche Fehltage war die Beklagte entgeltfortzahlungspflichtig. Im Jahr 2020 bis zum Ausspruch der Kündigung war der Kläger erneut arbeitsunfähig krank von 6. Januar bis 10. Januar 2020. Auch hierfür hatte die Beklagte Entgeltfortzahlung zu leisten.
Die Beklagte hat den Kläger mit Schreiben vom 20. Januar 2020 (Bl. 58 und 59 der arbeitsgerichtlichen Akte) zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) eingeladen. Auf diese Einladung hat der Kläger, wie auch schon auf vergangene Einladungen, nicht reagiert.
Bei der Beklagten besteht eine zwischen ihr und dem Gesamtbetriebsrat abgeschlossene Betriebsvereinbarung über das betriebliche Eingliederungsmanagement (BV-bEM) (Bl. 110-115 der arbeitsgerichtlichen Akte), ergänzt durch eine zwischen der Beklagten und dem örtlichen Betriebsrat R. abgeschlossene „Vereinbarung zum BEM-Verfahren am Standort R.“ (Bl. 116 der arbeitsgerichtlichen Akte). Zu den Beteiligten des bEM heißt es in der BV-bEM auszugsweise:
3. Beteiligte
3.1 Betriebliches Eingliederungsteam
Das betriebliche Eingliederungsteam (BET) besteht aus benannten Vertretern der Personalabteilung, des Betriebsrats, der Schwerbehindertenvertretung, des MED und des HSS. Der angeschriebene Mitarbeiter kann zusätzlich zum betreuenden HR BP aus den Mitgliedern des BET grundsätzlich eine weitere Person hinzuziehen.
3.2 Integrationsteam
Wenn Anpassungen des Arbeitsplatzes, -prozesses oder der -bedingungen erforderlich sind, kann das Integrationsteam – sofern vorhanden – hinzugezogen werden. Hierfür ist das Einverständnis des MA notwendig (Anlage 4). Erteilt der MA sein Einverständnis nicht, führt das BET das BEM mit den dem BET möglichen Maßnahmen fort. Das Integrationsteam besteht aus Vertretern des Betriebsrats, der Schwerbehindertenvertretung, der Arbeitsplanung, der örtlichen Standortleitung, dem Arbeitgeberbeauftragten für Schwerbehinderte, HRL, MED, HSS, HSE.
Ausweislich Nr. 10 der BV-bEM ist dem Einladungsschreiben grundsätzlich zugleich eine Datenschutzerklärung entsprechend einer Anlage 3c (Bl. 89 der LAG-Akte) beizufügen. In dieser Anlage heißt es auszugsweise:
„Ich bin damit einverstanden, dass die Angaben, die im Rahmen des BEM erhoben werden, den am Prozess Beteiligten (insbesondere dem betrieblichen Eingliederungsteam (BET) und ggf. dem Vorgesetzten, dem Übersetzer, und bei erforderlichen Veränderungen des Arbeitsplatzes HSE, TEF, Standortleitung) bekannt gemacht werden. Zweck der Datenerhebung ist es, Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und/oder erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen sowie den Arbeitsplatz zu erhalten.“
Der Betriebsrat wurde zur beabsichtigten Kündigung angehört mit Anhörungsschreiben vom 17. Februar 2020 (Bl. 62-66 der arbeitsgerichtlichen Akte).
Der Kläger hielt die Kündigung für unwirksam. Er meinte, ihm könne schon keine negative Gesundheitsprognose gestellt werden. Diverse Krankheitsbilder seien wegen Ausheilung nicht prognosefähig.
Er rügte die Ordnungsgemäßheit der bEM-Einleitung. Er behauptete hierbei, die im Einladungsschreiben benannten Anlagen (Antwortschreiben, Datenschutzunterrichtung und Liste der BET-Mitglieder) nicht erhalten zu haben. Er rügte zudem die Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung. Er bestritt mit Nichtwissen, dass dem Betriebsrat als Anhang zum Anhörungsschreiben eine Fehlzeitenaufstellung vorgelegt worden sei.
Der Kläger beantragte:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 05.03.2020 nicht beendet wird.
2. Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1 wird die Beklagte verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Die Beklagte vertrat die Auffassung, dem Kläger müsse eine negative Gesundheitsprognose gestellt werden. Angesichts der Entgeltfortzahlungsbelastungen sei ihr eine Weiterbeschäftigung nicht mehr zumutbar.
Das bEM sei ordnungsgemäß eingeleitet worden. Die be nannten Anlagen seien beigefügt gewesen.
Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden. Die Fehlzeitenliste sei dem Betriebsrat ebenfalls vorgelegt worden.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 19. November 2020 festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die streitgegenständliche Kündigung aufgelöst wurde. Die Beklagte wurde zur Weiterbeschäftigung des Klägers verurteilt.
Das Arbeitsgericht schloss einzelne Fehlzeiten aus der Prognosefähigkeit aus und kam zum Ergebnis, dass die weiterhin verbleibende geringfügige Überschreitung des Sechswochenzeitraumes von Arbeitsunfähigkeitszeiten pro Kalenderjahr nicht so gravierend sei, um eine Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung des Klägers begründen zu können. Jedenfalls sei es nicht davon überzeugt, dass eine sich bereits anbahnende Abnahme der Fehlzeiten keine Fortsetzung finden könne.
Dieses Urteil wurde der Beklagten am 30. November 2020 zugestellt. Hiergegen richtet sich die vorliegende Berufung der Beklagten, die am 22. Dezember 2020 beim Landesarbeitsgericht einging und innerhalb der bis 1. März 2021 verlängerten Begründungsfrist am 26. Februar 2021 begründet wurde.
Die Beklagte hält das Urteil für fehlerhaft. Sie meint, insbesondere die Erkrankung des Klägers wegen eines Impingementsyndroms aus dem Jahr 2017 hätte nicht aus der Prognosebeurteilung ausgeschieden werden dürfen. Die vom Arbeitsgericht angenommene Abnahme von Fehlzeiten sei im Tatsächlichen nicht erkennbar.
Die Beklagte beantragt:
Das Urteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 19. November 2020 (1 Ca 108/20) wird abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Er verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird gem. § 64 Abs. 6 ArbGG iVm. § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und begründete und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.
I.
Das Arbeitsgericht hat zumindest im Ergebnis zu Recht der Kündigungsschutzklage stattgegeben.
Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien wurde nicht durch die streitgegenständliche Kündigung aufgelöst. Die Kündigung ist nicht sozial gerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG.
1. Die Wirksamkeit einer auf häufige Kurzerkrankungen gestützten ordentlichen Kündigung setzt zunächst eine negative Gesundheitsprognose voraus. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung sprechen (erste Stufe). Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Dabei können neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen, etwa durch zu erwartende, einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr übersteigende Entgeltfortzahlungskosten, zu einer solchen Beeinträchtigung führen (zweite Stufe). Ist dies der Fall, ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (dritte Stufe) (BAG 24. April 2018 – 2 AZR 6/18 –; BAG 16. Juli 2015 – 2 AZR 15/15 –; BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 –).
2. Dem Kläger kann auf der ersten Stufe eine negative Gesundheitsprognose gestellt werden.
a) Der Kläger war im Jahr 2016 an insgesamt 31,7 Arbeitstagen arbeitsunfähig krank. Zu den diesen Fehlzeiten zugrunde liegenden Diagnosen oder deren Ausheilung trug der Kläger nichts vor. Soweit sich aus der vorgelegten Diagnosenaufstellung der Krankenkasse Erkrankungen wegen lumbaler Bandscheibenschäden, Radikulopathie, Tonsillitis, chronisch-obstruktive Lungenkrankheit und Gastroenteritis/Kolitis ergeben, ist nicht ersichtlich, weshalb diese Erkrankungen dauerhaft und ohne Wiederholungsmöglichkeiten ausgeheilt sein sollten.
b) Zugunsten des Klägers kann davon ausgegangen werden, dass die Erkrankung wegen eines Impingementsyndroms ausgeheilt ist. Jedenfalls ist ein solches Krankheitsbild später nicht mehr aufgetreten, was, wenn es verschleißbedingt wäre, zumindest untypisch wäre. Selbst unter Abzug der hierauf entfallenden 14 Arbeitsunfähigkeitstage verblieben für 2017 37 arbeitsunfähigkeitbedingte prognosefähige Fehltage. Ein Ausscheiden der übrigen Fehlzeiten, die im Wesentlichen auf Atemwegserkrankungen oder Erkrankungen wegen Gastritis/Kolitis beruhen, kommt nicht in Betracht. Sie sind zumindest im Hinblick auf eine allgemeine Krankheitsanfälligkeit berücksichtigungsfähig.
c) Im Jahr 2018 sind ausschließlich Fehlzeiten wegen Atemwegserkrankungen oder Gastritis/Kolitis angefallen. Es sind sämtliche 42 Fehltage berücksichtigungsfähig.
d) Von den Fehlzeiten des Jahres 2019 können für die Prognose vier Arbeitstage in Abzug gebracht werden wegen einer Handgelenksprellung. Hierbei handelt es sich um ein einmaliges und abgeschlossenes Ereignis. Zugunsten des Klägers kann zudem unterstellt werden, dass die zwei Fehltage wegen einer Gichterkrankung nicht prognosefähig sind. Es verblieben dann immer noch 37 Fehltage. Die übrigen Fehlzeiten wegen Atemwegserkrankungen und Gastritis/Kolitis bleiben prognosefähig.
e) Entgegen der Auffassung des Klägers ist für die Prognosebeurteilung nicht starr auf den Zeitraum der letzten drei Jahre vor Zugang der Kündigung abzustellen. Es können vielmehr auch längere Zeitspannen einbezogen werden (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 –). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass selbst bereinigt in den letzten vier Jahren vor Ausspruch der Kündigung ca. 37 Fehltage pro Jahr angefallen sind, in den letzten drei Jahren gar ca. 38,5 Fehltage. Angesichts von 37 berücksichtigungsfähigen Fehltagen im Jahr 2019 kann entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts auch nicht von einer abnehmenden Tendenz die Rede sein.
3. Diese Fehlzeiten führen bei der Beklagten auf der zweiten Stufe zu erheblichen Beeinträchtigungen betrieblicher Interessen. Die Beklagte hat ausgehend von dieser Prognose auch weiterhin mit deutlichen Entgeltfortzahlungsbelastungen zu rechnen, die über die zumutbare Sechswochengrenze hinausgehen. Es waren nämlich auch in der Vergangenheit sämtliche Fehlzeiten mit Entgeltfortzahlungsbelastungen belegt.
4. Die Kündigung erweist sich jedoch im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung auf der dritten Stufe als nicht sozial gerechtfertigt. Sie ist unverhältnismäßig. Die Beklagte hat nämlich trotz Notwendigkeit der Durchführung eines bEM ein solches nicht ordnungsgemäß eingeleitet.
a) Es ist dabei von folgenden Grundsätzen auszugehen.
aa) Die Durchführung des bEM ist zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung. § 84 Abs. 2 SGB IX ist dennoch kein bloßer Programmsatz. Die Norm konkretisiert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe des bEM können möglicherweise mildere Mittel als die Kündigung erkannt und entwickelt werden. Möglich ist, dass auch ein tatsächlich durchgeführtes bEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können. In einem solchen Fall darf dem Arbeitgeber kein Nachteil daraus entstehen, dass er es unterlassen hat. Will sich der Arbeitgeber hierauf berufen, hat er die objektive Nutzlosigkeit des bEM darzulegen und ggf. zu beweisen. Dazu muss er umfassend und detailliert vortragen, warum weder ein weiterer Einsatz auf dem bisherigen Arbeitsplatz, noch dessen leidensgerechte Anpassung oder Veränderung möglich gewesen seien und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit habe eingesetzt werden können, warum also ein bEM im keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Ist es dagegen denkbar, dass ein bEM ein positives Ergebnis erbracht, das gemeinsame Suchen nach Maßnahmen zum Abbau der Fehlzeiten also Erfolg gehabt hätte, muss sich der Arbeitgeber regelmäßig vorhalten lassen, er habe „vorschnell“ gekündigt (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 –).
bb) Die Durchführung eines bEM ist auf verschiedene Weisen möglich. § 167 Abs. 2 SGB IX schreibt weder konkrete Maßnahmen noch ein bestimmtes Verfahren vor. Das bEM ist ein rechtlich regulierter verlaufs-und ergebnisoffener „Suchprozess“, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll. Allerdings lassen sich aus dem Gesetz gewisse Mindeststandards ableiten. Zu diesen gehört es, die gesetzlich dafür vorgesehenen Stellen, Ämter und Personen zu beteiligen und zusammen mit ihnen eine an den Zielen des bEM orientierte Klärung ernsthaft zu versuchen. Ziel des bEM ist es festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen ist, und herauszufinden, ob Möglichkeiten bestehen, sie durch bestimmte Veränderungen künftig zu verringern, um so eine Kündigung zu vermeiden. Es ist Sache des Arbeitgebers, die Initiative zur Durchführung des bEM zu ergreifen. Bei der Durchführung muss er eine bestehende betriebliche Interessenvertretung, das Einverständnis des Arbeitnehmers vorausgesetzt, hinzuziehen. Kommt es darauf an, ob der Arbeitgeber eine solche Initiative ergriffen hat, kann davon nur ausgegangen werden, wenn er den Arbeitnehmer zuvor nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX auf die Ziele des bEM sowie Art und Umfang der dabei erhobenen Daten hingewiesen hat. Der Hinweis erfordert eine Darstellung der Ziele, die inhaltlich über eine bloße Bezugnahme auf die Vorschrift des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hinausgeht. Zu diesen Zielen rechnet die Klärung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst
überwunden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie das Arbeitsverhältnis erhalten werden kann. Dem Arbeitnehmer muss verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen seiner Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch er Vorschläge einbringen kann. Daneben ist ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung erforderlich, der klarstellt, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes bEM durchführen zu können. Dem Arbeitnehmer muss mitgeteilt werden, welche Krankheitsdaten – als sensible Daten i.S.v. Art. 9 Abs. 1, 4 Nr. 15 DS-GVO – erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber zugänglich gemacht werden. Nur bei entsprechender Unterrichtung kann vom Versuch der ordnungsgemäßen Durchführung eines bEM die Rede sein (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 –).
cc) Bezogen auf den erforderlichen Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung ist noch Folgendes zu berücksichtigen:
Die Klärung von Möglichkeiten zur Beendigung gegenwärtiger und Vermeidung neuer Arbeitsunfähigkeiten sowie zum Erhalt des Arbeitsplatzes ist nur möglich, wenn die beteiligten Akteure im möglichen Umfang Informationen über die Ausgangssituation haben. Daher ist das Erfassen dieser Ausgangssituation denknotwendig Bestandteil eines bEM. Zu beachten ist dabei aber, dass berechtigte Interessen des Beschäftigten gegen eine umfassende Informationssammlung sprechen können. Nicht zuletzt, weil es in der Regel um besonderer Kategorien personenbezogener Daten iSd. Art. 9 EU-DS-GVO, insbesondere Gesundheitsdaten nach Art. 4 Nr. 15 EU-DS-GVO geht, gehört zu den Pflichten des Arbeitgebers auch die Beachtung des Datenschutzes. Die Beachtung des Datenschutzes ist in § 167 Abs. 2 SGB IX zwar verklausuliert, aber dennoch ausdrücklich vorgeschrieben. Ihre Notwendigkeit ergibt sich zudem aus dem besonderen Spannungsfeld der in wesentlichen Teilen auch schon rechtlich geregelten Interessen, in dem das bEM notwendig angesiedelt ist. Dies sind insbesondere das Erkenntnisinteresse des Arbeitgebers an allen für die Leistungsfähigkeit des Beschäftigten relevanten Informationen und das Interesse des Beschäftigten am Erhalt seines Arbeitsplatzes auch bei gesundheitlicher Einschränkung. Auch ganz allgemein ist die Einhaltung datenschutzrechtlichen Anforderungen für eine vertrauensvolle und effektive Zusammenarbeit im Rahmen des bEM unerlässlich (FRR/Ritz/Schian SGB IX § 167 Rn. 29 und 30).
Bei der Organisation des Datenschutzes sind folgende Leitlinien einzuhalten. Der Arbeitgeber – und in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB I jede andere Person, die Personalentscheidungen treffen kann – darf ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen Zugang nur zu solchen Daten haben, die für den Nachweis der Erfüllung der Pflicht zum bEM erforderlich sind oder ohne die er seine Zustimmung zu geplanten Maßnahmen etc. nicht erteilen kann. Diagnosen und ähnlich sensible Daten dürfen dem Arbeitgeber ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung des Betroffenen nicht zugänglich sein (FRR/Ritz/Schian SGB IX § 167 Rn. 44a und 45).
b) In Anwendung dieser Grundsätze kann nicht von einer ordnungsgemäßen Einleitung des bEM Verfahrens ausgegangen werden.
aa) Eine Einleitung eines bEM war gemäß § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX geboten. Der Kläger war innerhalb des Jahres vor Ausspruch der Kündigung an 37 Arbeitstagen, somit länger als sechs Wochen (wiederholt) arbeitsunfähig krank.
bb) An der Ordnungsgemäßheit des Einladungsschreibens selbst bestehen keine Zweifel.
cc) Ob dem Einladungsschreiben entsprechend der Behauptung der Beklagten das Hinweisblatt über die Datenerhebung und Datenverwendung als Anlage beigefügt war, kann dahinstehen. Eine Beweiserhebung hierüber konnte unterbleiben.
dd) Denn selbst wenn man unterstellen wollte, dass das Hinweisblatt dem Kläger zusammen mit dem Einladungsschreiben zugegangen sein sollte, wären die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Unterrichtung über die Datenverwendung nicht erfüllt.
(1) Die erkennende Kammer (LAG Baden-Württemberg 28. Juli 2021 – 4 Sa 68/20 –) hat in einem anderen Verfahren, ebenfalls die Beklagte betreffend, zu dem hier streitgegenständlichen Unterrichtungsschreiben bereits wie folgt ausgeführt: Vorliegend hat die Beklagte in der „Datenschutzerklärung“ versucht, von der Klägerin (hier: vom Kläger) eine Einwilligung nicht nur zur „Erhebung“ und „Nutzung“ (auch) von Gesundheitsdaten zu erlangen, sondern gemäß dem ersten Absatz auch zur „Bekanntmachung“ dieser Daten unter anderen gegenüber dem „Vorgesetzten“ und der „Standortleitung“. Die Einwilligung in die „Bekanntgabe“ von Gesundheitsdaten gegenüber dem „Vorgesetzten“ mag man vielleicht noch einschränkend auslegen können, dass dies nur gelten solle, wenn der Vorgesetzte als Teilnehmer des betrieblichen Eingliederungsteams (BET) herangezogen wurde. Im beigefügten Antwortschreiben hätte die Klägerin (hier: der Kläger) eine solche Beteiligung des Vorgesetzten ankreuzen können. Für eine „Bekanntmachung“ jedenfalls aller offenbarter Gesundheitsdaten (insb. Diagnosen) gegenüber der Standortleitung besteht dagegen kein nachvollziehbarer Grund. Hier reicht es aus, wenn der Arbeitgeber weiß, auf welche Einschränkungen er bei einer etwa gebotenen Umgestaltung von Arbeitsplätzen zu achten hat. Einer Kenntnis, auf welcher Diagnose diese Einschränkung beruht, bedarf er nicht. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Arbeitnehmer auch dem nicht im BET beteiligten Standortleiter freiwillig seine Gesundheitsdaten überlassen möchte i.S.d. Art. 9 Abs. 2 a; 7 EU-DS-GVO. Dann muss dem Arbeitnehmer aber im besonderem Maße deutlich gemacht werden, dass dieser Teil der Einwilligung nur freiwillig ist, weil sie für die Zwecke der Durchführung des bEM nicht erforderlich ist, vergleiche Art. 7 Abs. 4 EU-DS-GVO. Das ist vorliegend nicht der Fall. Hieran hält die Kammer fest.
(2) Daran ändert sich auch nichts, weil nach dem ergänzenden Vorbringen der Beklagten das Einladungsschreiben und die Unterrichtung über die Datenerhebung und Datenverwendung in Zusammenhang gelesen werden müssten mit der BV-bEM. Dem Kläger wurde nämlich als Ausgangssituation im Einladungsschreiben lediglich mitgeteilt, dass das bEM mit Mitgliedern des BET durchgeführt werde. Dafür soll dem Kläger eine Anlage mit einer Liste der BET-Mitglieder zugeleitet worden sein. Auf dieser Liste befanden sich aber nur Namen von Mitarbeitern der Personalabteilung, von Mitgliedern des Betriebsrats und der Schwerbehindertenvertretung, der Werkärzte und der Mitarbeiter der Sozialberatung. Der/die Standortleiter/in war auf dieser Liste nicht benannt. Zwar kann gemäß Nr. 3.2 der BV-bEM, wenn Anpassungen des Arbeitsplatzes, -prozesses oder der -bedingungen erforderlich sind, mit Einverständnis des Mitarbeiters auch ein sog. Integrationsteam zum bEM hinzugezogen werden mit einem gegenüber dem BET erweiterten Teilnehmerkreis, der ua. die örtliche Standortleitung umfasst. Jedoch ist diese Erweiterungsmöglichkeit im Einladungsschreiben nicht er wähnt. Der Kläger hätte anhand des Einladungsschreibens somit nicht erkennen können, dass die im Datenschutzhinweis benannte „Bekanntgabe“ seiner Gesundheitsdaten an die Standortleitung nur bei einem zusätzlichen Einverständnis in eine Verfahrenserweiterung und nur innerhalb des bEM-Verfahrens und seiner Zwecksetzung erfolgen sollte. Er musste unter bloßer Zugrundelegung der Datenschutzunterrichtung vielmehr davon ausgehen, dass seine Gesundheitsdaten, insbesondere seine Diagnosen, gegebenenfalls an die Standortleitung bekannt gemacht werden könnten, obwohl diese gar nicht in das Verfahren eingebunden wären. Eine solche unzureichende Darstellung der Ausgangslage wäre zumindest geeignet gewesen, einen Arbeitnehmer – so auch den Kläger – in Abwägung mit seinen Datenschutzinteressen von einer freiwilligen Teilnahme am bEM Abstand nehmen zu lassen. Diese potentielle Fehlvorstellung kann nicht dadurch überbrückt werden, weil im Betreff des Einladungsschreibens die BV-bEM benannt wurde. Arbeitnehmer sind nicht gehalten, neben dem ausdrücklichen Einladungsschreiben eine in dessen Betreff benannte Betriebsvereinbarung parallel zu lesen, um etwaige Irritationen und Unklarheiten zu beseitigen.
(3) Die Kammer hatte die unzureichende Einleitung des bEM im Verfahren zu beachten, obwohl der Kläger eine inhaltliche Fehlerhaftigkeit der Unterrichtung gar nicht gerügt hat, sondern nur den Zugang des Unterrichtungsschreibens über die Datenerhebung und -verwendung bestritt. Es mag für die Beklagte misslich sein, dass die Vorlage der Datenschutzunterrichtung im Prozess nur erforderlich wurde, weil der Kläger dessen Zugang überhaupt bestritt und es deshalb zum Zwecke einer Beweiserhebung über den Zugang notwendig war, zu wissen, welches Schreiben überhaupt zugegangen sein soll. Durch die Vorlage des Schreibens wurde dieses aber zum Gegenstand des Verfahrens und des Prozessvortrags der Beklagten gemacht. Dieser Prozessvortrag war dann jedoch – unter Beachtung des Streitgegenstands – unter allen in Betracht kommenden Gründen zu prüfen. Lediglich bedurfte es eines rechtlichen Hinweises des Gerichts gemäß § 139 ZPO (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 5/12 –). Dieser Hinweis wurde im Berufungstermin erteilt.
c) Es kann vorliegend nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer ordnungsgemäßen Unterrichtung über das bEM der Kläger an einem solchen teilgenommen hätte und im Rah men des Verfahrens Möglichkeiten gefunden worden wären, die Fehlzeiten des Klägers zu reduzieren. Jedenfalls hat die Beklagte nicht aufgezeigt, dass ein bEM vorliegend entbehrlich gewesen wäre.
II.
Der Kläger hat im Bestandsschutzstreit obsiegt. Es überwiegt somit sein Beschäftigungsinteresse gegenüber den gegenläufigen Interessen der Beklagten. Dem Kläger steht daher ein allgemeiner Weiterbeschäftigungsanspruch zu.
III.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
2. Die Revision war für die Beklagte gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.