Urteil : Unzulässigkeit der systematischen Erhebung sensibler Daten durch Polizei : aus der RDV 2/2023, Seite 119 bis 120
(EuGH, Urteil vom 26. Januar 2023 – C-205/21 –)
[…]
- Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a) bis c) sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, zum einen zu überprüfen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele unbedingt erforderlich ist, und zum anderen, ob bzw. dass diese Ziele nicht durch Maßnahmen erreicht werden können, die einen weniger schwerwiegenden Eingriff in die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person darstellen.
Zu den Vorlagefragen:
Folglich ist die vierte Frage so zu verstehen, dass sie im Wesentlichen darauf abzielt, festzustellen, ob Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a) bis c) sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, zum einen zu bestimmen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele erforderlich ist, und zum anderen, ob bzw. dass diese Ziele nicht durch die Erhebung nur eines Teils der betreffenden Daten erreicht werden können.
Es ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts die Anforderung nach Art. 10 dieser Richtlinie betreffen, wonach die Verarbeitung der in dieser Vorschrift genannten besonderen Kategorien von Daten „nur“ dann erlaubt ist, „wenn sie unbedingt erforderlich ist“.
So wird zum einen durch die Verwendung des Adverbs „nur“ vor dem Ausdruck „wenn sie unbedingt erforderlich ist“ betont, dass die Verarbeitung besonderer Kategorien von Daten im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 nur in einer begrenzten Zahl von Fällen als erforderlich angesehen werden kann. Zum anderen bedeutet der Umstand, dass die Erforderlichkeit der Verarbeitung solcher Daten „unbedingt“ sein muss, dass diese Erforderlichkeit besonders streng zu beurteilen ist. […]
Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie aus dem 26. ErwG der Richtlinie 2016/680 hervorgeht, die Anforderung der Erforderlichkeit erfüllt ist, wenn das mit der betreffenden Datenverarbeitung verfolgte Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen, insbesondere die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, eingreifen (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 1. August 2022, Vyriausioji tarnybínes etikos komisija, C 184/20, EU:C:2022:601, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere muss sich der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hinblick auf den erhöhten Schutz von Personen bei der Verarbeitung sensibler Daten vergewissern, dass dieses Ziel nicht durch die Heranziehung anderer als der in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 aufgeführten Datenkategorien erreicht werden kann.
Zweitens bedeutet die Anforderung der „unbedingten Erforderlichkeit“ in Anbetracht der erheblichen Risiken, die die Verarbeitung sensibler Daten für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen insbesondere im Zusammenhang mit den Aufgaben der zuständigen Behörden für die in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Zwecke darstellt, dass der besonderen Bedeutung des Zwecks, der mit einer solchen Verarbeitung erreicht werden soll, Rechnung getragen wird. Diese Bedeutung kann u.a. anhand der Art des verfolgten Ziels beurteilt werden, insbesondere des Umstands, ob die Verarbeitung einem konkreten Zweck dient, der mit der Verhütung von Straftaten oder einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit von einem gewissen Schweregrad der Verfolgung solcher Straftaten oder dem Schutz vor einer solchen Bedrohung zusammenhängt, sowie im Licht der besonderen Umstände, unter denen diese Verarbeitung erfolgt.
Nach alledem ist festzustellen, dass nationale Rechtsvorschriften, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen vorsehen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, grundsätzlich gegen die Anforderung in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 verstößt, wonach die Verarbeitung der in dieser Vorschrift genannten besonderen Kategorien von Daten „nur“ dann erlaubt ist, „wenn sie unbedingt erforderlich ist“.
Solche Rechtsvorschriften können nämlich unterschiedslos und allgemein zur Erhebung biometrischer und genetischer Daten der meisten beschuldigten Personen führen, da der Begriff „vorsätzliche Offizialstraftat“ besonders allgemein gehalten ist und auf eine große Zahl von Straftaten unabhängig von ihrer Art und Schwere angewendet werden kann.
[…] Jedoch kann der bloße Umstand, dass eine Person einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, nicht als ein Faktor angesehen werden, der für sich genommen die Annahme zuließe, dass die Erhebung ihrer biometrischen und genetischen Daten im Hinblick auf die damit verfolgten Zwecke und unter Berücksichtigung der sich daraus ergebenden Verletzungen von Grundrechten, insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten, die durch die Artt. 7 und 8 der Charta garantiert werden, unbedingt erforderlich ist.
So kann es zum einen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, die ihre Beschuldigung rechtfertigt, was voraussetzt, dass bereits genügend Beweise für eine Beteiligung dieser Person an der Straftat gesammelt wurden, Fälle geben, in denen die Erhebung sowohl biometrischer als auch genetischer Daten für die Zwecke des laufenden Strafverfahrens nicht konkret erforderlich ist.
Zum anderen kann die Wahrscheinlichkeit, dass die biometrischen und genetischen Daten einer beschuldigten Person im Rahmen anderer Verfahren als dem, in dessen Rahmen die Beschuldigung erfolgt ist, unbedingt erforderlich sind, nur unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren bestimmt werden, wie etwa Art und Schwere der mutmaßlichen Straftat, der sie beschuldigt wird, der besonderen Umstände dieser Straftat, des etwaigen Zusammenhangs der Straftat mit anderen laufenden Verfahren, der Vorstrafen oder des individuellen Profils der betreffenden Person.