Urteil : Zulässigkeit der parallelen Ausübung von Artt. 78 und 79 DS-GVO : aus der RDV 2/2023, Seite 113 bis 114
(EuGH, Urteil vom 12. Januar 2023 – C-132/21 –)
Relevanz für die Praxis
Das Urteil betrifft wichtige Auslegungsfragen der DS-GVO. Bedeutsam ist die Entscheidung zum einen deshalb, weil sie klarstellen, dass im Ergebnis Betroffene sowohl einen Rechtsbehelf nach Art. 78 DS-GVO gegen die Entscheidung der Aufsichtsbehörde im Verwaltungsverfahren als auch einen Rechtsbehelf nach Art. 79 DS-GVO unmittelbar gegen die verantwortliche Stelle wegen eines Verstoßes gegen die DS-GVO selbst anstrengen können. Dies stärkt die Rechtsposition der betroffenen Person erheblich.
Zum anderen ist das Urteil im Hinblick auf die Frage interessant, ob es letztlich zu einer Bindungswirkung einer Entscheidung eines Gerichts für ein anderes Gericht aus einem anderen Rechtsweg kommen kann. Spannend ist auch, wie die Mitgliedstaaten den Auftrag zur entsprechenden Ausgestaltung des Gerichts- und Verwaltungsverfahrens umsetzen werden.
Art. 77 Abs. 1, Art. 78 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 der […] [DS-GVO] i.V.m. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie es erlauben, die in Art. 77 Abs. 1 und Art. 78 Abs. 1 einerseits und in Art. 79 Abs. 1 andererseits vorgesehenen Rechtsbehelfe nebeneinander und unabhängig voneinander auszuüben. Es obliegt den Mitgliedstaaten, im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie die Modalitäten des Zusammenspiels dieser Rechtsbehelfe zu regeln, […].
Zu den Vorlagefragen:
Zunächst ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen, dass die Verordnung 2016/679 weder eine vorrangige oder ausschließliche Zuständigkeit vorsieht noch einen Vorrang der Beurteilung der genannten Behörde oder des genannten Gerichts zum Vorliegen einer Verletzung der durch diese Verordnung verliehenen Rechte. Der Rechtsbehelf nach Art. 78 Abs. 1 der Verordnung, dessen Gegenstand die Prüfung der Rechtmäßigkeit des gemäß Art. 77 der Verordnung erlassenen Beschlusses einer Aufsichtsbehörde ist, und der in Art. 79 Abs. 1 der Verordnung vorgesehene Rechtsbehelf können daher nebeneinander und unabhängig voneinander eingelegt werden. […]
Während nämlich der Unionsgesetzgeber das Verhältnis zwischen den in der Verordnung 2016/679 vorgesehenen Rechtsbehelfen im Fall gleichzeitiger Befassung von Aufsichtsbehörden oder Gerichten mehrerer Mitgliedstaaten mit einer Verarbeitung personenbezogener Daten durch denselben Verantwortlichen ausdrücklich geregelt hat, ist dies bei den in den Artt. 77 bis 79 dieser Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfen nicht der Fall.
Zum einen sehen die Artt. 60 bis 63 der Verordnung 2016/679 Mechanismen der Zusammenarbeit, der gegenseitigen Amtshilfe und der Koordinierung vor, nach denen sich die Aufsichtsbehörden gegenseitig unterstützen, einander informieren und gemeinsame Maßnahmen durchführen, um eine kohärente und wirksame Anwendung der Verordnung in der gesamten Union sicherzustellen.
Zum anderen sieht Art. 81 Abs. 2 und 3 der Verordnung Regeln für Fälle vor, in denen mehrere Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten angerufen werden.
Dagegen sind solche Regeln in der Verordnung 2016/679 nicht vorgesehen, wenn wegen derselben Verarbeitung personenbezogener Daten in ein und demselben Mitgliedstaat eine Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde und gerichtliche Rechtsbehelfe eingelegt werden.
Außerdem ergibt sich aus Art. 78 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 im Licht des 143. ErwG´s dieser Verordnung, dass die Gerichte, die mit einer Klage gegen einen Beschluss einer Aufsichtsbehörde befasst sind, eine uneingeschränkte Zuständigkeit besitzen sollten, was die Zuständigkeit, sämtliche für den bei ihnen anhängigen Rechtsstreit maßgebliche Sach- und Rechtsfragen zu prüfen, einschließt.
Was schließlich die mit dieser Verordnung verfolgten Ziele betrifft, geht insbesondere aus dem zehnten ErwG der Verordnung hervor, dass diese darauf abzielt, ein hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten in der Union zu gewährleisten. Im elften ErwG dieser Verordnung heißt es außerdem, dass ein wirksamer Schutz dieser Daten die Stärkung der Rechte der betroffenen Personen erfordert. […]
Die Bereitstellung mehrerer Rechtsbehelfe stärkt auch das im 141. ErwG der Verordnung 2016/679 genannte Ziel, jeder betroffenen Person, die sich in ihren Rechten gemäß dieser Verordnung verletzt sieht, das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gemäß Art. 47 der Charta zu garantieren.
Mangels einer einschlägigen Unionsregelung ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, die Modalitäten für das Verwaltungsverfahren und das Gerichtsverfahren zu regeln, die ein hohes Schutzniveau der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. […]
Diese Modalitäten dürfen […] nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juli 2022, EPIC Financial Consulting, C 274/21 und C 275/21, EU:C:2022:565, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). […]
Die Mitgliedstaaten müssen daher sicherstellen, dass die konkreten Modalitäten für die Ausübung der in Art. 77 Abs. 1, Art. 78 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 vorgesehenen Rechtsbehelfe das in Art. 47 der Charta niedergelegte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht nicht unverhältnismäßig beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2017, Puškár, C 73/16, EU:C:2017:725, Rn. 76).
Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass nach dem im ungarischen Recht vorgesehenen Rechtsbehelfssystem die in Art. 78 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 vorgesehenen Rechtsbehelfe voneinander unabhängig sind. […]
Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidungen dieser beiden Gerichte einander widersprechen, indem das eine einen Verstoß gegen die Verordnung 2016/679 und das andere das Fehlen eines solchen Verstoßes feststellt.
In diesem Fall würde zum einen das Vorliegen zweier einander widersprechender Entscheidungen das im zehnten ErwG dieser Verordnung genannte Ziel in Frage stellen, eine unionsweit gleichmäßige und einheitliche Anwendung der Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sicherzustellen.
Der Schutz, der aufgrund einer Entscheidung gewährt wird, die im Rahmen eines Rechtsbehelfs nach Art. 79 Abs. 1 der Verordnung ergangen ist und in der ein Verstoß gegen die Bestimmungen der Verordnung festgestellt wird, stünde nämlich nicht im Einklang mit einer zweiten gerichtlichen Entscheidung mit entgegengesetztem Ergebnis, die auf einen Rechtsbehelf nach Art. 78 Abs. 1 der Verordnung zurückgeht.
Zum anderen würde sich daraus eine Schwächung des Schutzes natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten ergeben, da eine solche Inkohärenz zu einer Situation der Rechtsunsicherheit führen würde. […]