Aufsatz : Datenschutzprozessrecht à la Luxemburg : aus der RDV 3/2024, Seite 146-149
Der EuGH entscheidet zur Anwendbarkeit der DS-GVO im Zivilprozess und wirft Fragen auf
Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens (EuGH, Urt. v. 02.03.2023 – C 268/21) hat sich der EuGH mit der Anwendbarkeit datenschutzrechtlicher Vorschriften im Zivilprozess beschäftigt und deren Anwendbarkeit für das innerstaatliche Verfahrensrecht vorgegeben. Die Entscheidung ist nicht nur für Gerichte relevant, sondern auch für nicht-öffentliche Stellen, da sich der EuGH eingehend mit den Voraussetzungen für eine Zweckänderung nach Art. 6 Abs. 4 DS-GVO auseinandersetzt. Die Entscheidung hat zudem massive Auswirkungen auf das Verfahrensrecht und Grundsätze der Verfassung.
I. Das Ausgangsverfahren
Im Ausgangsverfahren, einem schwedischen Zivilprozess, streiten die Beteiligten über die Vergütung von Baumaßnahmen. Die Norra Stockholm Bygg AB (im Folgenden: Fastec) wurde von der Per Nycander AB (im Folgenden: Nycander) mit dem Neubau eines Bürogebäudes beauftragt. Die ausführenden Bauarbeiter erfassten ihre Anwesenheitszeiten in einem elektronischen Personalverzeichnis. Nach dem schwedischen Steuerverfahrensgesetz ist der Bauherr verpflichtet, ein solches Personalverzeichnis zu führen. Der Auftragnehmer Fastec verlangte von Nycander für die Bautätigkeit eine Zahlung von mehr als zwei Millionen schwedischen Kronen. Nycander hielt den Betrag für zu hoch, weil die tatsächlich erbrachten Stunden der Bauarbeiter geringer gewesen seien. Vor dem erstinstanzlichen Gericht beantragte der Auftraggeber zum Beweis über die tatsächlich erbrachten Arbeitsstunden die Vorlage des Personalverzeichnisses. Fastec wandte ein, dass die Offenlegung des Personalverzeichnisses gegen die DS-GVO verstoßen würde, da die Arbeitszeiterfassung zu steuerrechtlichen Zwecken und somit zu einem anderen Zweck erhoben worden seien.
Das erstinstanzliche Gericht entschied, dass das Personalverzeichnis dennoch vorzulegen sei. Diese Entscheidung wurde in der Berufungsinstanz bestätigt. Fastec legte gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts Rechtsmittel beim Obersten Gericht Schwedens ein und beantragte, den Antrag auf Vorlage des Personalverzeichnisses abzuweisen, hilfsweise die Vorlage einer anonymisierten Fassung anzuordnen. Das oberste Gericht legte schließlich dem Europäischen Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
- Sind Art. 6 Abs. 3 und 4 DS-GVO auch Anforderungen an das nationale Verfahrensrecht in Bezug auf die Vorlegungspflicht zu entnehmen?
- Falls Frage 1 zu bejahen ist: Sind nach der DS-GVO auch die Interessen der betroffenen Personen zu berücksichtigen, wenn über die Vorlegung von Unterlagen mit personenbezogenen Daten entschieden wird? Enthält das Unionsrecht in einem solchen Fall Vorgaben dafür, wie im Einzelnen diese Entscheidung zu treffen ist?
II. Anwendbarkeit der DS‑GVO
Bevor sich der EuGH im Rahmen der ersten Vorlagefrage mit der Zweckänderung auseinandersetzt, prüft er, ob der Anwendungsbereich der DS-GVO eröffnet ist. Grundsätzlich gilt die DS-GVO gem. Art. 2 Abs. 1 auch für Verarbeitungstätigkeiten durch Behörden. Die gerichtliche Tätigkeit in Zivilverfahren unterfällt keinem der Ausnahmetatbestände gem. Art. 2 Abs. 2 und 3 DS-GVO. Aus ErwG 20 ergibt sich, dass die DS-GVO auch für Tätigkeiten der Gerichte und anderer Justizbehörden gilt. Um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren, sind Gerichte im Rahmen der justiziellen Tätigkeit lediglich von der Kontrolle durch die Datenschutzaufsichtsbehörden ausgenommen, Art. 55 Abs. 3 DS-GVO.
III. Zweckänderung
Sodann setzt sich der EuGH mit der Frage auseinander, ob im Ausgangsverfahren das Personalverzeichnis, das ursprünglich für Steuerzwecke erstellt wurde, auch zu Beweiszwecken im Zivilprozess verarbeitet werden darf. Der EuGH prüft zunächst, ob die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung gem. Art. 6 DS-GVO vorliegen:
„Hierzu ist erstens festzustellen, dass nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. e) DS-GVO die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig ist, wenn sie für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde.
Nach Art. 6 Abs. 3 DS-GVO i.V.m. dem 45. ErwG wird die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung gem. Art. 6 Abs. 1 Buchst. e) dieser Verordnung durch das Unionsrecht oder das Recht des Mitgliedstaats, dem der Verantwortliche unterliegt, festgelegt. Das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten müssen ferner ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen.
Den Vorgaben von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e) DS-GVO i.V.m. Art. 6 Abs. 3 DS-GVO wird daher entsprochen, wenn insbesondere eine nationale Rechtsgrundlage vorliegt, die als Grundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten dient, wobei diese Verarbeitung durch Verantwortliche erfolgt, die in Wahrnehmung einer Aufgabe tätig werden, die im öffentlichen Interesse liegt, oder einer Aufgabe, die in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt. Hierzu zählen etwa die Aufgaben, die Gerichte im Rahmen ihrer Rechtsprechungsbefugnisse wahrnehmen.
Erfolgt die Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem diese Daten erhoben wurden, ergibt sich zweitens aus Art. 6 Abs. 4 DS-GVO i.V.m. dem 50. ErwG, dass eine solche Verarbeitung insbesondere dann zulässig ist, wenn sie auf dem Recht eines Mitgliedstaats beruht und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz eines der in Art. 23 Abs. 1 DS-GVO genannten Ziele darstellt. Wie es im 50. ErwG heißt, ist der Verantwortliche zum Schutz dieser wichtigen Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses somit berechtigt, die personenbezogenen Daten ungeachtet dessen weiterzuverarbeiten, ob sich die Verarbeitung mit den Zwecken, für die die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbaren ließ.“[1]
Der EuGH konturiert in dieser Entscheidung die Voraussetzungen für eine Zweckänderung nach Art. 6 Abs. 4 DS-GVO. Bislang war umstritten, ob eine zweckändernde Weiterverarbeitung bereits zulässig ist, wenn die ursprüngliche Erhebung durch einen der Erlaubnistatbestände des Art. 6 Abs. 1 DS-GVO gedeckt war und zusätzlich die Kriterien des Art. 6 Abs. 4 Hs. 2 lit. a))-e) DS-GVO erfüllt sind.[2] Aus den Ausführungen des EuGH ergibt sich nunmehr, dass eine zweckändernde Weiterverarbeitung nach Art. 6 Abs. 4 DS-GVO zulässig ist, wenn diese zu einem neuen Zweck auf einer Rechtsvorschrift der Mitgliedstaaten beruht, die in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Art. 23 Abs. 1 DS-GVO genannten Ziele darstellt.[3] Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist eine zweckändernde Datenverarbeitung nur zulässig, wenn der neue Zweck mit dem ursprünglichen Zweck kompatibel im Sinne des Art. 6 Abs. 4 Hs. 2 DS-GVO ist. Die Kompatibilität ist anhand der in Art. 6 Abs. 4 Hs. 2 DS-GVO nicht abschließend genannten Kriterien zu bestimmen.[4]
Sowohl für öffentliche als auch für nicht-öffentliche Stellen bedeutet das, dass nach dem Verständnis des EuGH Art. 6 Abs. 4 DS-GVO zwei Alternativen regelt, nach denen eine Zweckänderung zulässig ist. Zur zweiten, der Kompatibilitätsprüfung, hat sich der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nicht geäußert, da es für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage ausreichend war, die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 4 Hs. 1 DS-GVO unter Berücksichtigung der in Art. 23 Abs. 1 DS-GVO genannten Ziele zu prüfen. Gemessen daran dürfte die Datenverarbeitung im Ausgangsverfahren aufgrund der steuerrechtlichen Pflichten des Bauherren gem. Art. 6 Abs. 1 lit. e) DS-GVO i.V.m. Art. 6 Abs. 3 DS-GVO i.V.m. der Vorschrift zum Führen eines Personalverzeichnisses nach dem schwedischen Steuerverfahrensgesetz[5] zulässig sein. Auch die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 4 Hs. 1 DS-GVO zum Zweck der Beweisführung im Zivilprozess liegen vor:
„Daher ist davon auszugehen, dass die Verarbeitung dieser Daten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens wie dem des im Ausgangsverfahrens eine Verarbeitung zu einem anderen Zweck als demjenigen ist, zu dem die personenbezogenen Daten erhoben wurden, nämlich zum Zwecke der Steuerprüfung, wobei dieser Zweck nicht auf der Einwilligung der betroffenen Personen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a) DS-GVO beruht.
Unter diesen Umständen muss die Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als demjenigen, zu dem diese Daten erhoben wurden, nicht nur auf nationalem Recht wie den Bestimmungen von Kap. 38 RB beruhen, sondern auch eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige und verhältnismäßige Maßnahme im Sinne von Art. 6 Abs. 4 DS-GVO darstellen und eines der in Art. 23 Abs. 1 DS-GVO genannten Ziele sicherstellen.
Zu diesen Zielen gehören nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. f) DS-GVO der „Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und der Schutz von Gerichtsverfahren“, wobei dieses Ziel, wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, dahin zu verstehen ist, dass es auf den Schutz der Rechtspflege vor internen oder externen Eingriffen, aber auch auf eine ordnungsgemäße Rechtspflege abzielt. Darüber hinaus stellt nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. j) DS-GVO die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche ebenfalls ein Ziel dar, das eine Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als demjenigen, zu dem sie erhoben wurden, rechtfertigen kann. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass sich die Verarbeitung personenbezogener Daten Dritter im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens auf solche Ziele stützen kann. […] Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 3 und 4 DS-GVO dahin auszulegen ist, dass diese Vorschrift im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens auf die Vorlegung eines Personalverzeichnisses als Beweismittel anwendbar ist, das personenbezogene Daten Dritter enthält, die hauptsächlich zum Zwecke der Steuerprüfung erhoben wurden.“[6]
Das BAG hat unter Bezugnahme auf das besprochene Urteil mittlerweile entschieden, dass eine zweckändernde Verarbeitung durch das Gericht selbst dann in Betracht kommt, wenn die vor- oder außergerichtliche Erhebung dieser Daten durch eine Prozesspartei sich nach Maßgabe der DS-GVO oder des nationalen Datenschutzrechts als rechtswidrig darstellt.[7] Das ist konsequent, wenn mit dem EuGH in Art. 6 Abs. 4 DS-GVO zwei Alternativen gesehen werden. Denn im Falle der ersten Alternative, die in den hier besprochenen Fällen einschlägig ist, kommt es gerade nicht auf die Zwecke und deren Kompatibilität, sondern auf den Schutz der in Art. 23 Abs. 1 DS-GVO genannten Ziele an. Dann ist aber auch die Rechtmäßigkeit der Ersterhebung für die Rechtmäßigkeit der zweckändernden Weiterverarbeitung nicht relevant.
IV. Verhältnismäßigkeitsprüfung und Datenminimierung
Im Rahmen der zweiten Vorlagefrage befasst sich der EuGH mit dem Verhältnis zwischen den Vorschriften der DS-GVO und den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften, konkret der schwedischen Prozessordnung. Der EuGH stellt klar, dass die nationaen Gerichte bei der Anwendung der innerstaatlichen Verfahrensvorschriften die DS-GVO beachten müssen. Das bedeutet konkret, dass nationale Gerichte im Rahmen der Beweisermittlung nicht nur die Interessen der Parteien nach Maßgabe des Verfahrensrechtes berücksichtigen müssen, sondern auch die Interessen betroffener Personen, deren personenbezogene Daten Inhalt von Beweismitteln sind. Nationale Gerichte müssen prüfen, ob über eine Tatsache nach Maßgabe der Prozessordnungen Beweis zu erheben ist und welches Beweismittel verhältnismäßig im Sinne der DS-GVO ist. Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung sind die Interessen der Parteien an einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und einem fairen Verfahren gegen die Interessen betroffener Personen an ihren Rechten auf Privat- und Familienleben sowie auf Schutz personenbezogener Daten abzuwägen.
„In diesem Zusammenhang ist mithin Art. 5 Abs. 1 DS-GVO ebenfalls zu berücksichtigen, und zwar insbesondere der Grundsatz der „Datenminimierung“ in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c) DS-GVO, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Ausdruck verleiht. Nach diesem Grundsatz der Datenminimierung müssen die personenbezogenen Daten dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein.
Das nationale Gericht hat daher festzustellen, ob die Offenlegung personenbezogener Daten angemessen und erheblich ist, um das mit den anwendbaren Bestimmungen des nationalen Rechts verfolgte Ziel zu erreichen, und ob dieses Ziel nicht durch die Verwendung von Beweismitteln erreicht werden kann, die weniger in den Schutz der personenbezogenen Daten einer großen Zahl von Dritten eingreifen, wie etwa die Vernehmung ausgewählter Zeugen.“
Daraus folgt, dass das nationale Gericht stets prüfen muss, ob zu Beweiszwecken alle in einer Urkunde enthaltenen Daten erforderlich sind oder ob nur Auszüge einer Urkunde zum Beweis der streitigen und entscheidungserheblichen Tatsache genügen. Stehen gleich geeignete, mildere Mittel zum Beweis derselben Tatsache zur Verfügung, muss das Gericht dieses Mittel, z.B. den Zeugenbeweis, vorziehen. Der EuGH leitet aus dem Grundsatz der Datenminimierung ab, dass die nationalen Gerichte gegebenenfalls technische und organisatorische Maßnahmen bei der Datenverarbeitung für Beweiszwecke ergreifen müssen.
Zu den zusätzlichen Datenschutzmaßnahmen gehören:„[…] die in Art. 4 Nr. 5 DS-GVO definierte Pseudonymisierung der Namen der betroffenen Personen oder jede andere Maßnahme, die dazu bestimmt ist, die Beeinträchtigung des Rechts auf Schutz der personenbezogenen Daten, die die Vorlegung eines solchen Dokuments darstellt, zu minimieren. Zu solchen Maßnahmen können insbesondere die Beschränkung des Zugangs der Öffentlichkeit zu den Akten oder eine Anordnung an die Parteien, denen die Dokumente mit personenbezogenen Daten zugänglich gemacht wurden, gehören, diese Daten nicht zu einem anderen Zweck als zur Beweisführung in dem betreffenden Gerichtsverfahren zu verwenden.“
Nach alledem sind Artt. 5 und 6 DS-GVO für den EuGH dahin auszulegen, dass das nationale Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob die Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten anzuordnen ist, verpflichtet ist, die Interessen der betroffenen Personen zu berücksichtigen und sie je nach den Umständen des Einzelfalls, der Art des betreffenden Verfahrens und unter gebührender Berücksichtigung der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, sowie insbesondere derjenigen Anforderungen abzuwägen, die sich aus dem Grundsatz der Datenminimierung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c) DS-GVO ergeben.
Im oben angesprochenen Fall hat das BAG eine entsprechende Verhältnismäßigkeitsprüfung zwar vorgenommen. Dies geschah aber im Rahmen der Prüfung eines Beweisverwertungsverbotes. Eine solche Prüfung war nur erforderlich, weil im Verfahren vor dem BAG eine rechtswidrige Ersterhebung vorlag, während die Ersterhebung im Verfahren vor dem EuGH rechtmäßig stattgefunden hatte. Wie sich aus den Ausführungen des EuGH ergibt, hätte das BAG unabhängig von der Frage nach dem Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen und dabei die besonderen Anforderungen des Grundsatzes der Datenminimierung berücksichtigen müssen.
V. Kritik
Die Entscheidung des EuGH ist in zwei Richtungen bemerkenswert.
- Zweckänderung
Mit Blick auf die Auslegung von Art. 6 Abs. 4 DS-GVO nimmt der EuGH eine neue Konturierung vor. Eine zweckändernde Weiterverarbeitung nach Art. 6 Abs. 4 DS-GVO ist zulässig, wenn diese erstens zu einem neuen Zweck auf einer Rechtsvorschrift der Mitgliedstaaten beruht, die zweitens in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Art. 23 Abs. 1 DS-GVO genannten Ziele darstellt.[8]
- Verhältnismäßigkeit und Datenminimierung
Die Ausführungen des EuGH zur Verhältnismäßigkeit und dem Grundsatz der Datenminimierung klingen in der Theorie interessant. Bei der praktischen Umsetzung ergeben sich jedoch zahlreiche Konflikte, die in Einzelfällen die Justizgrundrechte der Beteiligten, aber auch die Unabhängigkeit der Gerichte in einem unzulässigen Maße einschränken können. Die Auswahl eines geeigneten Beweismittels darf sich nicht nur am Grundsatz der Datenminimierung orientieren. Mit dem Schlagwort der „Datenminimierung“ will die DS-GVO verhindern, dass die verarbeiteten Daten für den verfolgten Zweck inadäquat, unerheblich oder entbehrlich sind.[9] Es geht also nicht um eine starre Minimierung, sondern um eine zweckangemessene datenschonende Verarbeitung. Die Entscheidung läuft diesen Gedanken zuwider. Soweit der EuGH vorschlägt, dem Zeugenbeweis Vorrang vor dem Urkundenbeweis einzuräumen, verkennt er, dass das Gericht unter Umständen mehr personenbezogene Daten bei der Zeugeneinvernahme verarbeiten muss, um die Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit der Aussage beurteilen zu können. Diese werden über den Umweg des Protokolls wesentlich detailreicher zum Gegenstand der Akte als ohne Zeugenvernehmung. Probleme ergeben sich auch dann, wenn das Gericht den Interessen betroffener Personen Vorrang einräumt, etwa weil eine Urkunde besonders schützenswerte Daten nach Artt. 9 und 10 DS-GVO enthält, die nach dem Willen des Gesetzgebers nicht zum Gegenstand einer Interessenabwägung gemacht werden dürfen.[10] Wenn das nationale Gericht aufgrund der Pflicht zur Datenminimierung die faktisch gesperrten Daten nach Art. 9 oder 10 DS-GVO, die ja Beweismittel sind, nur teilweise berücksichtigt, könnte der Beweiswert des Beweismittels verändert werden. Das könnte wiederum Folgen für den Ausgang des Prozesses haben. Beispielhaft wäre etwa ein Zivilprozess, in dem der Kläger Schadensersatz nach einem Massenunfall geltend macht, wobei er für den Schaden mitverantwortlich ist. In einem solchen Verfahren wird ggf. Beweis über gesundheitsrelevante Tatsachen des Klägers, aber auch weiterer Geschädigter erhoben. Die Auslegung des EuGH ist auch auf das Verwaltungsverfahren übertragbar. So muss das Verwaltungsgericht etwa in einem Asylverfahren Maßnahmen zur Datenminimierung in Erwägung ziehen, wenn es Daten über die sexuelle Orientierung, Religionszugehörigkeit oder die Gesundheit verarbeitet. Ohne deren Berücksichtigung kann eine Klage im Asylverfahren häufig kaum getroffen werden. In diesem Fall alternativ eine Zeugenvernehmung über die sensiblen Daten mit dem Hinweis auf erhöhte Datensparsamkeit anzuordnen, dürfte dem Zweck des Art. 5 Abs. 1 Buchst. c) DS-GVO schwerlich gerecht werden.
Höchst problematisch ist zudem der Vorschlag des EuGH, den Zugang der Öffentlichkeit zu beschränken. Der Grundsatz der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen ist wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Er gewährleistet, dass jedermann grundsätzlich die Möglichkeit hat, an mündlichen Verhandlungen der Gerichte teilzunehmen. Dies ermöglicht eine öffentliche Kontrolle des Gerichtsverfahrens und gewährleistet zugleich den Grundsatz der Zugänglichkeit von Informationen, die für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung von Bedeutung sind.[11] Nach dem deutschen Recht kann nur unter bestimmten Voraussetzungen die Öffentlichkeit gem. § 169 Abs. 1 S. 1 GVG, §§ 171a ff. GVG ausgeschlossen werden.[12] Räumt das Gericht fälschlicherweise den datenschutzrechtlichen Interessen Nichtverfahrensbeteiligter, betroffener Personen ein höheres Gewicht ein und schränkt deshalb die Öffentlichkeit ein, hat dies auch unmittelbare Folgen für die Parteien und den weiteren Verfahrensverlauf. Ein Verstoß gegen § 169 ZPO stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel nach § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO und einen unbedingten Revisionsgrund gem. § 547 Nr. 5 ZPO dar.
Eine weitere Gefahr besteht darin, dass die Parteien gegen die Verwertung eines Beweismittels den Einwand erheben, es liege ein Verstoß gegen die DS-GVO, insbesondere gegen den Grundsatz der Datenminimierung vor. Ein solch taktisches Prozessverhalten belastet Gerichte und verzögert den Rechtsstreit unnötig.[13]
VI. Anwendungsfall
Um die Konsequenzen des EuGH-Urteils zu verdeutlichen, sei hier ein fiktiver Anwendungsfall aus der verwaltungsgerichtlichen Praxis präsentiert. In diesem Fall will eine Universität die Verleihung eines Doktorgrades zurücknehmen. Hierzu wird der betroffene Bürger zunächst angehört. Der Bürger lässt sich mündlich zu der Sache ein. Mit seinem Einverständnis wird eine Tonaufzeichnung angefertigt, auf deren Basis ein Wortprotokoll erstellt wird. Da sich Behörde und Bürger in der Folge nicht einigen können, kommt es zum Verfahren vor dem Verwaltungsgericht. Das Gericht will im Rahmen der Beweisermittlung das Protokoll der Anhörung verwerten. Der Bürger allerdings ist mittlerweile der Auffassung, dass seine Äußerungen in der Anhörung seiner Sache schaden könnten. Er widerruft daher seine Einwilligung in die Tonaufzeichnung und widerspricht der Verarbeitung seiner im Protokoll enthaltenen personenbezogenen Daten. Nach der Rechtsprechung des EuGH hat das Gericht nunmehr zu prüfen, ob das Protokoll als Beweismittel verhältnismäßig im Sinne der DS-GVO ist.
VII. Fazit
Die Entscheidung Norra Stockholm des EuGH hat weitreichende Konsequenzen für die Praxis der Gerichte und verfassungsrechtlich äußerst problematische Implikationen. Sie anzuwenden bedeutet nicht nur sich gegen die Ratio des Unionsrechts zu wenden, sondern auch in Konflikt mit der Verfassung zu geraten. Sie reiht sich insofern in die Reihe anderer Entscheidungen, wie die zum Parlamentsdatenschutz[14] ein, bei der der EuGH den Anwendungsbereich der DS-GVO für die datenschutzrechtliche Aufsicht über die nationalen Parlamente eröffnet und damit in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingreift.[15]
Prof. Dr. Rolf Schwartmann
Kölner Forschungsstelle für Medienrecht der Technischen Hochschule Köln, Mitherausgeber von Recht der Datenverarbeitung (RDV) sowie Vorsitzender der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit (GDD) e.V.
Kristin Benedikt
ist Richterin am Verwaltungsgericht Regensburg
Moritz Köhler
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht an der TH Köln und Doktorand bei Prof. Dr. Rolf Schwartmann.
[1] EuGH, Urt. v. 02.03.2023 – C-268/21, BeckRS 2023, 2998 – Norra Stockholm Bygg AB/Per Nycander AB, Rn. 30-33.
[2] BeckOK DatenschutzR/Albers/Veit, 47. Ed. 01.02.2024, DS-GVO Art. 6 Rn. 102- 109.
[3] EuGH, Schlussanträge des Generalsanwalts vom 06.10.2022 – C 268/21, Rn. 37
[4] BeckOK DatenschutzR/Albers/Veit, 47. Ed. 01.02.2024, DS-GVO Art. 6 Rn. 104
[5] Kap. 38 RB.
[6] EuGH, Urt. v. 02.03.2023 – C-268/21, BeckRS 2023, 2998 – Norra Stockholm Bygg AB/Per Nycander AB, Rn. 36-41.
[7] BAG, Urt. v. 29.06.2023 – 2 AZR 296/22, RDV 6/2023, 382 (383); anders noch in der Vorinstanz (und vor dem Urteil des EuGH) das LAG Hannover, Urt. v. 06.07.2022 – 8 Sa 1150/20, RDV 1/2023, 52.
[8] EuGH, Schlussanträge des Generalsanwalts vom 06.10.2022 – C-268/21, Rn. 37.
[9] Jaspers/Schwartmann/Hermann, HK DS-GVO/BDSG (2. Aufl.), Art. 5 Rn. 52.
[10] EuGH, Schlussanträge des Generalsanwalts vom 06.10.2022 – C 268/21, Rn. 81.
[11] BVerwG, Urt. v. 01.10.2014 – 6 C 35/13, BeckRS 2014, 59182, Rn. 32.
[12] Vgl. IWRZ 2023, 181 (184).
[13] Vgl. RDi 2023, 301 (302).
[14] 4 EuGH, Urt. v. 16.01.2024 – C-33/22, RDV 2024, 115 ff.
[15] Dazu Grzeszick/Schwartmann, NVwZ 2024, 401 ff.