Urteil : Die gegenwärtige Ausgestaltung der Überwachung der Telekommunikation von Ausländern im Ausland durch den BND verletzt Grundrechte (Ls) : aus der RDV 4/2020, Seite 206 bis 207
(Bundesverfassungsgericht, Urteil des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17 –)
- Die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG ist nicht auf das deutsche Staatsgebiet begrenzt. Der Schutz der einzelnen Grundrechte kann sich im Inland und Ausland unterscheiden. Jedenfalls der Schutz des Art. 10 Abs. 1 und des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG als Abwehrrechte gegenüber einer Telekommunikationsüberwachung erstreckt sich auch auf Ausländer im Ausland.
- Die derzeitigen Regelungen zur Ausland-Ausland-Telekommunikationsüberwachung, zur Übermittlung der hierdurch gewonnenen Erkenntnisse und zur Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten verletzen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG; der Gesetzgeber hat die Grundrechte bewusst als nicht betroffen erachtet, obwohl sie auch hier anwendbar sind. Sie genügen auch zentralen materiellen Anforderungen der Grundrechte nicht.
- Art. 10 Abs. 1 GG schützt die Vertraulichkeit individueller Kommunikation als solche. Personen, die geltend machen, in ihren eigenen Grundrechten verletzt zu sein, sind nicht deshalb vom Grundrechtsschutz des Grundgesetzes ausgeschlossen, weil sie als Funktionsträger einer ausländischen juristischen Person handeln.
- Die Regelung der Auslandsaufklärung fällt unter die auswärtigen Angelegenheiten im Sinne von Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG. Dem Bundesnachrichtendienst kann auf dieser Kompetenzgrundlage über die Aufgabe einer außen- und sicherheitspolitischen Unterrichtung der Bundesregierung hinaus als eigene, nicht operativ wahrzunehmende Aufgabe die Früherkennung von aus dem Ausland drohenden Gefahren von internationaler Dimension übertragen werden. Es muss sich um Gefahren handeln, die sich ihrer Art und ihrem Gewicht nach auf die Stellung der Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft auswirken können und gerade in diesem Sinne von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung sind.
- Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ist mit Art. 10 Abs. 1 GG nicht grundsätzlich unvereinbar. Als anlasslose, im Wesentlichen nur final angeleitete und begrenzte Befugnis ist sie jedoch eine Ausnahmebefugnis, die auf die Auslandsaufklärung durch eine Behörde, welche selbst keine operativen Befugnisse hat, begrenzt bleiben muss und nur durch deren besonderes Aufgabenprofil gerechtfertigt ist. Erforderlich sind danach insbesondere Maßgaben zur Aussonderung der Telekommunikationsdaten von Deutschen und Inländern, eine Begrenzung der zu erhebenden Daten, die Festlegung qualifizierter Überwachungszwecke, die Strukturierung der Überwachung auf der Grundlage eigens festgelegter Maßnahmen, besondere Anforderungen an gezielt personenbezogene Überwachungsmaßnahmen, Grenzen für die bevorratende Speicherung von Verkehrsdaten, Rahmenbestimmungen zur Datenauswertung, Vorkehrungen zum Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen, die Gewährleistung eines Kernbereichsschutzes und Löschungspflichten.
- Die Übermittlung personenbezogener Daten aus der strategischen Überwachung ist nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter zulässig und setzt eine konkretisierte Gefahrenlage oder einen hinreichend konkretisierten Tatverdacht voraus. Ausgenommen sind hiervon Berichte an die Bundesregierung, soweit diese ausschließlich der politischen Information und Vorbereitung von Regierungsentscheidungen dienen. Die Übermittlung setzt eine förmliche Entscheidung des Bundesnachrichtendienstes voraus und bedarf der Protokollierung unter Nennung der einschlägigen Rechtsgrundlage. Vor der Übermittlung an ausländische Stellen ist eine Vergewisserung über den rechtsstaatlichen Umgang mit den Daten geboten; hierbei bedarf es einer auf die betroffene Person bezogenen Prüfung, wenn es Anhaltspunkte gibt, dass diese durch die Datenübermittlung spezifisch gefährdet werden kann.
- Regelungen zur Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten genügen grundrechtlichen Anforderungen nur, wenn sie sicherstellen, dass die rechtsstaatlichen Grenzen durch den gegenseitigen Austausch nicht überspielt werden und die Verantwortung des Bundesnachrichtendienstes für die von ihm erhobenen und ausgewerteten Daten im Kern gewahrt bleibt. Will der Bundesnachrichtendienst von einem Partnerdienst bestimmte Suchbegriffe nutzen, um die Treffer ohne nähere inhaltliche Auswertung automatisiert an diesen zu übermitteln, erfordert dies eine sorgfältige Kontrolle dieser Suchbegriffe sowie der hieran anknüpfenden Trefferfälle. Die bei Auslandsübermittlungen geltenden Vergewisserungspflichten gelten entsprechend. Die gesamthafte Übermittlung von Verkehrsdaten an Partnerdienste setzt einen qualifizierten Aufklärungsbedarf im Hinblick auf eine spezifisch konkretisierte Gefahrenlage voraus. Für den Umgang der Partnerdienste mit den übermittelten Daten sind gehaltvolle Zusagen einzuholen. 8. Die Befugnisse zur strategischen Überwachung, zur Übermittlung der mit ihr gewonnenen Erkenntnisse und zur diesbezüglichen Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten sind mit den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nur vereinbar, wenn sie durch eine unabhängige objektivrechtliche Kontrolle flankiert sind. Sie ist als kontinuierliche Rechtskontrolle auszugestalten, die einen umfassenden Kontrollzugriff ermöglicht.
- Hierfür ist einerseits eine mit abschließenden Entscheidungsbefugnissen verbundene gerichtsähnliche Kontrolle sicherzustellen, der die wesentlichen Verfahrensschritte der strategischen Überwachung unterliegen, sowie anderseits eine administrative Kontrolle, die eigeninitiativ stichprobenmäßig den gesamten Prozess der Überwachung auf seine Rechtmäßigkeit prüfen kann. Zu gewährleisten ist eine Kontrolle in institutioneller Eigenständigkeit. Hierzu gehören ein eigenes Budget, eine eigene Personalhoheit sowie Verfahrensautonomie. Die Kontrollorgane sind personell wie sächlich so auszustatten, dass sie ihre Aufgaben wirksam wahrnehmen können. Sie müssen gegenüber dem Bundesnachrichtendienst alle für eine effektive Kontrolle erforderlichen Befugnisse haben. Dabei ist auch dafür Sorge zu tragen, dass die Kontrolle nicht durch die „Third Party Rule“ behindert wird.