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Urteil : Eignung einer audio-visuelle Über tragung (Videoaufsicht) zur Vermeidung von Täuschungsversuchen bei Prüfungen (Ls) : aus der RDV 4/2021, Seite 231 bis 233

(Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 3. März 2021 – 3 MR 7/21 –)

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  1. Dem Rechtsschutzsuchenden fehlt das Rechtsschutzinteresse, wenn er seine Rechtsstellung mit der begehrten gerichtlichen Entscheidung derzeit nicht verbessern kann.
  2. Eine audio-visuelle Übertragung (Videoaufsicht) ist zur Vermeidung von Täuschungsversuchen bei Prüfungen geeignet gemäß nachstehendem § 7 – 2021 der Corona Ergänzungssatzung Elektronische Prüfungen und zur Prüfungsaufsicht bei elektronischen Prüfungen gestattet.

Prüfungsaufsicht bei elektronischen Prüfungen

(1) Zur Unterbindung von Täuschungshandlungen während einer elektronischen Prüfung können die Studierenden verpflichtet werden, die Kamera- und Mikrofonfunktion der zur Prüfung eingesetzten Kommunikationseinrichtungen zu aktivieren (Videoaufsicht). Die Videoaufsicht ist im Übrigen so einzurichten, dass der Persönlichkeitsschutz und die Privatsphäre der Betroffenen nicht mehr, als zu den berechtigten Kontrollzwecken erforderlich, eingeschränkt werden.

(2) Die Videoaufsicht erfolgt durch Aufsichtspersonal der Hochschule. Eine automatisierte Auswertung von Bild- oder Tondaten der Videoaufsicht ist unzulässig.

(3) Eine Aufzeichnung der Prüfung oder anderweitige Speicherung der Bild- oder Tondaten ist nicht zulässig. § 6 Abs. 2 Satz 2 gilt entsprechend.

(4) Der Ablauf und die wesentlichen Inhalte der elektronischen Prüfung werden von einer prüfenden oder beisitzenden Person protokolliert.

Anmerkung von Rechtsanwalt Dr. Felix Neumann, M.A.*

Elektronische Fernprüfungen haben sich in der Coronapandemie als Möglichkeit erwiesen, den Prüfungsbetrieb aufrecht zu erhalten. Um die Chancengleichheit zu gewährleisten, werden diese Onlineklausuren regelmäßig durch eine audiovisuelle Prüfungsaufsicht flankiert, die jedoch eine Vielzahl datenschutzrechtlicher Fragen aufwirft.

Vorliegend entschied das Oberverwaltungsgericht Schleswig, dass eine solche Videoaufsicht unter bestimmten Voraussetzungen verhältnismäßig ist.

Der Antragsteller, ordentlich immatrikulierter Student der Antragsgegnerin im 3. Fachsemester, wendet sich gegen die in § 7 der Satzung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zur Ergänzung der Corona-Satzung Studien- und Prüfungswesen – 2020 zur Durchführung elektronischer Prüfungen – 2021 (Corona-Ergänzungssatzung Elektronische Prüfungen – 2021) enthaltene, Regelung zur Prüfungsaufsicht bei elektronischen Prüfungen.

1. Hintergrund

Der vorliegende Beschluss des OVG Schleswig fügt sich in eine Reihe erster Eilentscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit rund um die Thematik von Onlineklausuren ein, die eine Vielzahl von Rechtsfragen aufwerfen.[1] Der Kern des vorliegenden Verfahrens bildete die Frage der datenschutzrechtlichen Zulässigkeit einer audiovisuellen Prüfungsaufsicht. Das Spannungsfeld wurde dabei einerseits determiniert durch das Recht auf Chancengleichheit, die Vermeidung von Täuschungsversuchen und die Aufrechterhaltung des Prüfungsbetriebs (Art. 3 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG). Andererseits stehen diesen Geboten das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG), der Grundsatz der Datenminimierung (Art. 5 Abs. 1 lit. c) DS-GVO) und das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) gegenüber.

Um sich dieser Thematik zu nähern, sind grundsätzlich drei Eingriffsstufen audiovisueller Prüfungsaufsicht voneinander zu unterscheiden.[2] Nur geringe Eingriffe bestehen bei solchen Maßnahmen, die keine Echtzeitüberwachung des Prüflings, sondern lediglich die Identifizierung auf einer Prüfungsmaske vorschreiben und gleichzeitig technische Möglichkeiten integrieren, die es verhindern, dass weitere Bildschirme oder Zwischenablagen auf dem Computer geöffnet werden können. Die zweite Stufe, die auch Gegenstand der hier besprochenen Entscheidung ist, wird geprägt durch eine dauerhafte audiovisuelle Überwachung der Studierenden, die auch Einblicke in die privaten Wohnräume ermöglicht. Diese zweite Eingriffsschwelle (sog. menschliches Proctoring) unterscheidet von der dritten Stufe (sog. automatisiertes Proctoring) dadurch, dass eine menschliche Aufsichtsperson durch Zuschaltung des Mikrophones bzw. der Computerkamera – regelmäßig durch Verwendung eines Onlinekonferenzprogramms – die Aufsicht durchführt. Bei der dritten Stufe ersetzen hingegen vollautomatische Programme die menschliche Kontrolle. Während die erste Stufe regelmäßig zulässig und die letztere Überwachungsvariante grundsätzlich unzulässig ist, kommt es bei der mittleren Eingriffsschwelle entscheidend auf deren Ausgestaltung und die datenschutzrechtlichen Flankierungen im Einzelfall an.

Dabei können folgende Maßstäbe einen Ausschlag zugunsten einer Zulässigkeit gegeben: Von einer Konformität ist umso eher auszugehen, je stärker die Onlineüberwachung den bei Präsenzklausuren eingesetzten Methoden ähnelt.[3] Wenn das in der Onlineklausur verwendete Programm keine weiteren, nicht notwendigen Datenmaßnahmen durchführt, wie bspw. ein Auslesen der Browserhistorie, so schlägt ebenso dies ebenfalls zugunsten der Prüfungsaufsicht aus.[4] Gleichzeitig sollte eine Vor-Ort-Prüfung nach Möglichkeit angeboten werden, keine Aufzeichnung der Prüfung oder eine Übermittlung der Daten an Dritte erfolgen und die Bildschirm- bzw. Raumüberwachung nur soweit erfolgen, wie es zwingend für das jeweilige Prüfungsformat erforderlich ist.[5]

II. Bewertung

Gemessen an diesen abstrakten Kriterien ist der Eilentscheidung des Gerichts in Bezug auf die grundrechtliche Abwägungsentscheidung prinzipiell zuzustimmen.

Die Verordnung verbietet nämlich eine automatisierte Auswertung der erzeugten Bild- oder Tondaten. Die Aufsicht erfolgt nur durch das Hochschulpersonal mittels der Kamera- und Mikrophonfunktion und ist somit vergleichbar mit der Eingriffsintensität einer Präsenzprüfung bzw. der Teilnahme an einem Onlinemeeting. Auch die Aufzeichnung der Prüfung oder anderweitige Speicherung der Bild- oder Tondaten ist nach der Verordnung nicht zulässig, wodurch insbesondere dem Grundsatz der Datenminimierung nach Art. 5 Abs. 1 lit. c) DS-GVO Genüge getan wird.

Ebenso spricht für die datenschutzrechtliche Konformität der Verordnung, dass die Teilnahme nach § 9 Abs. 1 Corona-Ergänzungssatzung i.S.v. Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. a) DS-GVO freiwillig ist, denn es sollen nach Möglichkeit nichtelektronische Klausuren im gleichen Zeitraum angeboten werden, sodass die Satzung tatsächlich rechtskreiserweiternd wirkt. Hiergegen kann auch nicht eingewandt werden, dass die Einwilligung wegen des Machtgefälles zwischen den Studierenden und der Universität prinzipiell auszuschließen ist, denn eine solche Auslegung ist dem Wortlaut des Erwägungsgrunds Nr. 43 DSGVO nicht zu entnehmen.[6]

Im Rahmen des Hauptsacheverfahrens sollte das Gericht jedoch die Gültigkeit der Rechtsgrundlage stärker in den Blick nehmen. Die indirekte Argumentation des Gerichts, dass Onli-neprüfungen keinen so starken Grundrechtseingriff darstellen, dass diese nicht im Rahmen eines förmlichen Gesetzes, sondern ohne dezidierte Vorgaben in einer Hochschulsatzung geregelt werden können, überzeugt nicht. Elektronische Klausuren finden nämlich nicht an einem neutralen Ort, sondern in der eigenen Wohnung statt.[7] Auch die überwiegende Anzahl der Bundesländer hat dies bereits anders entschieden und explizite formellgesetzliche Regelungen für Onlineprüfungen geschaffen.[8]

Fraglich ist zudem, ob es wirklich im vorliegenden Fall einer Eilentscheidung des Präsidiums bedurfte und die Regelungen zur elektronischen Prüfung nicht durch den Senat, wie von § 5 Abs. 1 S. 3 Corona-HEVO i.V.m. §§ 21 Abs. 1 S. 3 Nr. 2, 22 Abs. 8 S. 1 HSG vorgesehen, hätten etabliert werden müssen.[9] Inwieweit ein feststehender Prüfungszeitraum bzw. eine seit einem Jahr bestehende Pandemielage nicht vorhersehbar und planbar, sondern eilbedürftig waren, erschließt sich einem Außenstehenden nicht.

Auch die mit diesem Punkt verbundene Frage, dass die Universität eine Onlineklausur ohne Überwachung beim Erlass der angegriffenen Norm nicht gewollt habe, weshalb das Gericht bereits die Zulässigkeit des Eilantrags vereinte, bedarf einer weiteren Prüfung in der Hauptsache. Alternative Prüfungsmodelle, wie z.B. Open-BookKlausuren, können abhängig vom didaktischen Ziel im jeweiligen Fach, eine sinnvolle Alternative ohne Überwachung darstellen.[10]

Vage bleibt die Verordnung, ebenso wie die ihr in vielen Punkten identische Bayerische Fernprüfungserprobungsverordnung, in Bezug auf konkrete Vorgaben, wie der Persönlichkeitsschutz und die Privatsphäre der Betroffenen nicht mehr als zu den berechtigten Kontrollzwecken eingeschränkt werden soll.[11]

III. Praxisfolgen

Mit dieser Eilentscheidung sind die Fragen des Verfahrens nicht abschließend geklärt, denn die Hauptsacheentscheidung steht noch aus, in der mit einer tiefgreifender Prüfung der Rechtsprobleme zu rechnen ist. Zudem werden trotz der aktuell fortschreitenden Impfkampagne die Rechtsfragen rund um die Onlineprüfungen nicht verschwinden. Durch den Vorteil der zeitlichen und räumlichen Flexibilität ist vielmehr zukünftig mit einer Mischung aus Präsenz- und Digitalprüfungen zu rechnen. Ebenso haben die Datenschutzbehörden begonnen, sich des Themas anzunehmen, und haben erste Fragebögen an die Hochschulen versandt. Diesen Schreiben war zu entnehmen, dass die Behörden insgesamt strenge Maßstäbe an Online-prüfungsformate anlegen und mit den Hochschulen sowie Wissenschaftsministerien im Gespräch darüber bleiben werden, wie elektronische Prüfungen datenschutzkonform durchgeführt werden können.[12]

Die Länder wären folglich gut beraten, ihre Hochschulgesetzte nun umfassend zu überarbeiten und detailreichere sowie einheitliche Vorgaben für alle Hochschulen zu schaffen. Insbesondere sollte geregelt werden, das digitale Prüfungsformate, die zu einer automatisierten Überwachung führen, Daten dauerhaft speichern bzw. an Dritte übermitteln, nicht zulässig sind. Auch dürfte eine umfassendere Aufklärung sowie Einbindung der Prüflinge zu mehr Akzeptanz beitragen.[13] So sollten einerseits die Aufsichtspersonen datenschutzrechtlich geschult werden, wie Persönlichkeitseingriffe vermieden werden können. Andererseits sollte eine Sensibilisierung der Studieren stattfinden, wie diese ihre persönlichen Daten und Räume schützen können. Einen Beitrag im Rahmen einer solchen Aufklärung bei Onlineklausuren könnten speziell gestaltete Datenschutzerklärungen leisten.[14] Aus der datenschutzrechtlichen Perspektive wäre es zudem zu begrüßen, wenn die Hochschulen langfristig eigene Plattformen und Programme entwickeln würden, anstatt auf kommerzielle Anbieter zurückzugreifen, die sich ihre vermeintlichen kostenfreien Produkte mit der Preisgabe der Daten bezahlen lassen.

Letztendlich kommt es entscheidend auf den konkreten Abwägungsvorgang und den Ausgleich der widerstreitenden Grundrechte an, sodass die Aussage des rheinland-pfälzischen Landesdatenschutzbeauftragten auch nach der Pandemie seine Gültigkeit behalten wird: „[Das] Datenschutzrecht gilt, aber seine Anwendung in Zeiten der Pandemie ist mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl zu gewährleisten.“[15]

* Der Autor ist Rechtsanwalt in der Kanzlei SchulteRiesenkampff in Frankfurt am Main.

[1] OVG Münster, Beschl. v. 04.03.2021 – 14 B 2781/21.NE, NJW 2021, 1414 ff.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 02.09.2020 – 2 ME 349/20, NVwZ-RR 2021, 58 ff.; VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 11.05.2021 – VG 1 L 124/21, BeckRS 2021, 11914; VG Leipzig, Beschl. v. 02.02.2021 – 7 L 41/21, BeckRS 2021, 1093.

[2] Zu diesen Stufen: Albrecht/Grath/Uphues, ZD 2021, 80, 80.

[3] Albrecht/Grath/Uphues, ZD 2021, 80, 81.

[4] LfDI Baden-Württemberg, Pressemitteilung v. 14.04.2021, https://www.baden-wuerttemberg.datenschutz.de/wp-content/uploads/2021/04/20210414_PM_Proctoring.pdf, abgerufen am 31. Mai 2021.

[5] Albrecht/Grath/Uphues, ZD 2021, 80 ff.; Birnbaum, NJW 2021, 1356 ff.; LfDI Baden-Württemberg (Fn. 4); Roßnagel, ZD 2020, 296, 299; Sandberger, OdW 2020, 155, 159 ff.

[6] Albrecht/Grath/Uphues, ZD 2021, 80, 82; Fehling, OdW 2020, 137, 146 f.; a. A.: Birnbaum, NJW 2021, 1356, 1357; Ernst, ZD 2017, 110, 111 f. Diff. Hoeren, Gutachten zur datenschutzrechtlichen Zulässigkeit von Überwachungsfunktionen bei Online-Klausuren, https://www.itm.nrw/wpcontent/uploads/RiDHnrw_11.06.20_Gutachten-zur-datenschutzrechtlichenZulässigkeit-von-Überwachungsfunktionen-bei-Online-Klausuren.pdf, abgerufen am 31.05.2021.

[7] Ebenso: Birnbaum, NJW 2021, 1356, 1357; Botta, Grundrechtseingriffe durch Online-Proctoring, https://verfassungsblog.de/grundrechtseingriffe-durch-online-proctoring/, abgerufen am 31. Mai 2021; Fischer/Dietrich, NVwZ 2020, 657, 661; Sandberger, OdW 2020, 155, 161; a. A.: Albrecht/Grath/Uphues, ZD 2021, 80, 82.

[8] Hierzu: Birnbaum, NJW 2021, 1356, 1357.

[9] Birnbaum, NJW 2021, 1356, 1357 f.

[10] Albrecht/Grath/Uphues, ZD 2021, 80, 81; Schwartmann, Hochschulen bewegen sich auf Glatteis, https://www.forschung-und-lehre.de/recht/hochschulen-bewegen-sich-auf-glatteis-3420/, abgerufen am 31.05.2021.

[11] Beide Verordnungen sind abrufbar unter: https://www.uni-kiel.de/gf-praesidium/de/recht/amtl-bekannt/amtliche-bekanntmachung-2021-1/1-Corona-Ergaenzungssatzung-Elektronische-Pruefungen-2021.pdf; https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayFEV, abgerufen am 31. Mai 2021.

[12] LfDI Baden-Württemberg (Fn. 4).

[13] Fischer/Dietrich, NVwZ 2020, 657, 662

[14] Fehling, OdW 2020, 137, 148.

[15] Kugelmann, Gesundheitsnot kennt Datenschutzgebot, https://verfassungsblog.de/gesundheitsnot-kennt-datenschutzgebot/, abgerufen am 31.05.2021.