Urteil : Berücksichtigung der Religionszugehörigkeit bei Abschluss eines Arbeitsvertrages mit einer kirchlichen Einrichtung : aus der RDV 3/2018, Seite 163 bis 167
(Europäischer Gerichtshof (Große Kammer), Urteil vom 17. April 2018 – C 414/16 –)
- Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist in Verbindung mit deren Art. 9 und 10 sowie mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass für den Fall, dass eine Kirche oder eine andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, zur Begründung einer Handlung oder Entscheidung wie der Ablehnung einer Bewerbung auf eine bei ihr zu besetzende Stelle geltend macht, die Religion sei nach der Art der betreffenden Tätigkeiten oder den vorgesehenen Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Kirche oder Organisation, ein solches Vorbringen gegebenenfalls Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein können muss, damit sichergestellt wird, dass die in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Kriterien im konkreten Fall erfüllt sind.
- Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass es sich bei der dort genannten wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderung um eine Anforderung handelt, die notwendig und angesichts des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation aufgrund der Art der in Rede stehenden beruflichen Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung objektiv geboten ist und keine sachfremden Erwägungen ohne Bezug zu diesem Ethos oder dem Recht dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie umfassen darf. Die Anforderung muss mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen.
- Ein mit einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen befasstes nationales Gericht ist, wenn es ihm nicht möglich ist, das einschlägige nationale Recht im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 auszulegen, verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus den Art. 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen.
Sachverhalt:
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
Im November 2012 schrieb das Evangelische Werk eine befristete Referentenstelle für ein Projekt aus, das die Erstellung des Parallelberichts zum Internationalen Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung zum Gegenstand hatte. Nach der Stellenausschreibung umfasste das Aufgabengebiet die Begleitung des Prozesses zur Staatenberichterstattung zum genannten Übereinkommen in Bezug auf die Zeit von 2012 bis 2014, die Erarbeitung des Parallelberichts zum deutschen Staatenbericht sowie von Stellungnahmen und Fachbeiträgen, die projektbezogene Vertretung der Diakonie Deutschland gegenüber der Politik, der Öffentlichkeit und Menschenrechtsorganisationen sowie die Mitarbeit in Gremien, die Information und Koordination des Meinungsbildungsprozesses im Verbandsbereich sowie die Organisation, Verwaltung und Sachberichterstattung zum Arbeitsbereich.
Außerdem wurden in der Stellenausschreibung die von den Bewerbern zu erfüllenden Voraussetzungen genannt. Eine von ihnen lautete:
„Die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der [Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland] angehörenden Kirche und die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag setzen wir voraus. Bitte geben Sie Ihre Konfession im Lebenslauf an.“
Frau E., die keiner Konfession angehört, bewarb sich auf die ausgeschriebene Stelle. Obwohl ihre Bewerbung nach einer ersten Bewerbungssichtung des Evangelischen Werkes noch im Auswahlverfahren verblieben war, wurde sie nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Der letztlich eingestellte Bewerber hatte zu seiner Konfessionszugehörigkeit angegeben, er sei ein „in der Berliner Landeskirche sozialisierter evangelischer Christ“.
In der Annahme, ihre Bewerbung sei wegen ihrer Konfessionslosigkeit abgelehnt worden, erhob Frau E. Klage beim Arbeitsgericht Berlin (Deutschland) und beantragte, das Evangelische Werk zu verurteilen, ihr nach § 15 Abs. 2 AGG einen Betrag von 9 788,65 Euro zu zahlen. Sie machte geltend, die aus der fraglichen Stellenausschreibung hervorgehende Berücksichtigung der Religion im Bewerbungsverfahren sei nicht mit dem Diskriminierungsverbot des AGG – in unionsrechtskonformer Auslegung – vereinbar; § 9 Abs. 1 AGG könne die Benachteiligung, die sie erlitten habe, nicht rechtfertigen.
Das Evangelische Werk trug vor, eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion sei in diesem Fall nach § 9 Abs. 1 AGG gerechtfertigt. Das Recht, die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche zu verlangen, sei Ausfluss des durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV geschützten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. Dieses Recht sei, insbesondere im Hinblick auf Art. 17 AEUV, mit dem Unionsrecht vereinbar. Zudem stelle die Religionszugehörigkeit unter Beachtung des Selbstverständnisses des Evangelischen Werkes nach der Art der Tätigkeit, um die es in der fraglichen Stellenausschreibung gehe, eine gerechtfertigte berufliche Anforderung dar.
Das Arbeitsgericht Berlin gab der Klage von Frau E. teilweise statt. Es stellte fest, dass sie benachteiligt worden sei, begrenzte aber die Höhe der Entschädigung auf 1 957,73 Euro. Nachdem ihre Berufung gegen diese Entscheidung vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) zurückgewiesen worden war, legte Frau E. beim vorlegenden Gericht Revision ein, um ihr Begehren nach Zahlung einer angemessenen Entschädigung weiterzuverfolgen.
Das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) ist der Auffassung, die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit hänge davon ab, ob die vom Evangelischen Werk vorgenommene Differenzierung nach der Religionszugehörigkeit gemäß § 9 Abs. 1 AGG zulässig sei. Diese Vorschrift sei unionsrechtskonform auszulegen.
Hierzu stellte es Fragen die der EuGH wie folgt beantwortete:
Aus den Gründen:
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine Kirche oder eine andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens verbindlich selbst bestimmen kann, bei welchen beruflichen Tätigkeiten die Religion nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Kirche oder Organisation darstellt.
Eingangs ist festzustellen, dass zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig ist, dass die auf die Konfessionslosigkeit von Frau E. gestützte Ablehnung ihrer Bewerbung eine Ungleichbehandlung wegen der Religion im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 darstellt.
Sodann ist auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, und insbesondere deren Entstehungsgeschichte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2015, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, C 461/13, EU:C:2015:433, Rn. 30).
Erstens geht aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 UnterAbs. 1 der Richtlinie 2000/78 hervor, dass eine Kirche oder eine andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, eine mit der Religion oder Weltanschauung zusammenhängende Anforderung aufstellen kann, wenn die Religion oder Weltanschauung nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.
Insoweit ist festzustellen, dass die Kontrolle der Einhaltung dieser Kriterien völlig ins Leere ginge, wenn sie in Zweifelsfällen keiner unabhängigen Stelle wie einem staatlichen Gericht obläge, sondern der Kirche oder der Organisation, die eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung vorzunehmen beabsichtigt.
Zweitens ist zum Ziel der Richtlinie 2000/78 und zum Kontext ihres Art. 4 Abs. 2 darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie nach ihrem Art. 1 bezweckt, im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung u.a. wegen der Religion oder Weltanschauung in Beschäftigung und Beruf zu schaffen. Damit konkretisiert die Richtlinie in dem von ihr erfassten Bereich das nunmehr in Art. 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot.
Um die Beachtung dieses allgemeinen Verbots zu gewährleisten, verpflichtet Art. 9 der Richtlinie 2000/78 im Licht ihres 29. Erwägungsgrundes die Mitgliedstaaten, Verfahren vorzusehen, mit denen Ansprüche aus dieser Richtlinie insbesondere gerichtlich geltend gemacht werden können. Ferner müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 10 der Richtlinie im Einklang mit ihrem nationalen Gerichtswesen die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um zu gewährleisten, dass immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt, zu beweisen, dass keine Verletzung dieses Grundsatzes vorgelegen hat.
Zudem hat nach Art. 47 der Charta jede Person das Recht auf wirksamen gerichtlichen Schutz der ihr aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte. Die Charta findet auf einen Rechtsstreit wie den des Ausgangsverfahrens Anwendung, da mit dem AGG die Richtlinie 2000/78 im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta im deutschen Recht durchgeführt wird und da der Rechtsstreit eine Person betrifft, die im Rahmen des Zugangs zu einer Beschäftigung eine Ungleichbehandlung wegen ihrer Religion erfahren hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C 682/15, EU:C:2017:373, Rn. 50).
Auch wenn die Richtlinie 2000/78 somit auf den Schutz des Grundrechts der Arbeitnehmer abzielt, nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden, soll sie mittels ihres Art. 4 Abs. 2 auch dem in Art. 17 AEUV und in Art. 10 der Charta – der Art. 9 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entspricht – anerkannten Recht auf Autonomie der Kirchen und der anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Rechnung tragen.
Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 bezweckt also die Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits dem Recht auf Autonomie der Kirchen und der anderen Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, und andererseits dem Recht der Arbeitnehmer, insbesondere bei der Einstellung nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden, falls diese Rechte im Widerstreit stehen sollten.
Im Hinblick darauf nennt diese Bestimmung die Kriterien, die im Rahmen der zur Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen den möglicherweise widerstreitenden Rechten vorzunehmenden Abwägung zu berücksichtigen sind.
Wenn es zu einem Rechtsstreit kommt, muss eine solche Abwägung aber gegebenenfalls von einer unabhängigen Stelle und letztlich von einem innerstaatlichen Gericht überprüft werden können.
In diesem Zusammenhang darf der Umstand, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 auf die zum Zeitpunkt ihrer Annahme geltenden nationalen Rechtsvorschriften sowie auf die zu diesem Zeitpunkt bestehenden einzelstaatlichen Gepflogenheiten Bezug nimmt, nicht dahin gehend verstanden werden, dass er den Mitgliedstaaten gestattet, die Einhaltung der in dieser Bestimmung genannten Kriterien einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle zu entziehen.
Daraus ist für den Fall, dass eine Kirche oder eine andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, zur Begründung einer Handlung oder Entscheidung wie der Ablehnung einer Bewerbung auf eine bei ihr zu besetzende Stelle geltend macht, die Religion sei nach der Art der betreffenden Tätigkeiten oder den vorgesehenen Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Kirche oder Organisation, zu folgern, dass ein solches Vorbringen gegebenenfalls Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein können muss, damit sichergestellt wird, dass die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien im konkreten Fall erfüllt sind.
Art. 17 AEUV vermag diese Schlussfolgerung nicht in Frage zu stellen.
57 Zum einen entspricht der Wortlaut dieser Bestimmung nämlich im Kern dem der Erklärung Nr. 11. Die ausdrückliche Bezugnahme auf diese Erklärung im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 macht deutlich, dass der Unionsgesetzgeber sie beim Erlass dieser Richtlinie und insbesondere ihres Art. 4 Abs. 2 berücksichtigt haben muss, da diese Vorschrift gerade auf die zum Zeitpunkt der Annahme der Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften und einzelstaatlichen Gepflogenheiten verweist.
Zum anderen ist festzustellen, dass Art. 17 AEUV die Neutralität der Union demgegenüber, wie die Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften gestalten, zum Ausdruck bringt. Hingegen kann dieser Artikel nicht bewirken, dass die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle entzogen wird.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 in Verbindung mit deren Art. 9 und 10 sowie mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass für den Fall, dass eine Kirche oder eine andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, zur Begründung einer Handlung oder Entscheidung wie der Ablehnung einer Bewerbung auf eine bei ihr zu besetzende Stelle geltend macht, die Religion sei nach der Art der betreffenden Tätigkeiten oder den vorgesehenen Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Kirche oder Organisation, ein solches Vorbringen gegebenenfalls Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein können muss, damit sichergestellt wird, dass die in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Kriterien im konkreten Fall erfüllt sind.
Zur dritten Frage
Mit seiner dritten Frage, die vor der zweiten zu untersuchen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, anhand welcher Kriterien im Einzelfall zu prüfen ist, ob die Religion oder Weltanschauung angesichts des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 darstellt.
Zwar müssen die Mitgliedstaaten und ihre Behörden, insbesondere ihre Gerichte, im Rahmen der nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 erforderlichen Abwägung, auf die oben in den Rn. 51 und 52 hingewiesen worden ist, abgesehen von ganz außergewöhnlichen Fällen, davon Abstand nehmen, die Legitimität des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation als solchen zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 12. Juni 2014, Fernández Martínez/Spanien, CE:ECHR:2014:0612- JUD005603007, Rn. 129); gleichwohl haben sie darüber zu wachen, dass das Recht der Arbeitnehmer, u.a. wegen der Religion oder der Weltanschauung keine Diskriminierung zu erfahren, nicht verletzt wird. Somit ist nach Art. 4 Abs. 2 zu prüfen, ob die von der betreffenden Kirche oder Organisation aufgestellte berufliche Anforderung im Hinblick auf dieses Ethos aufgrund der Art der fraglichen Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist.
Zur Auslegung des Begriffs „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 geht aus dieser Vorschrift ausdrücklich hervor, dass es von der „Art“ der fraglichen Tätigkeiten oder den „Umständen“ ihrer Ausübung abhängt, ob die Religion oder Weltanschauung eine solche berufliche Anforderung darstellen kann.
Die Rechtmäßigkeit einer Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung nach Maßgabe dieser Vorschrift hängt also vom objektiv überprüfbaren Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit ab. Ein solcher Zusammenhang kann sich entweder aus der Art dieser Tätigkeit ergeben – z.B., wenn sie mit der Mitwirkung an der Bestimmung des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation oder einem Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag verbunden ist – oder aus den Umständen ihrer Ausübung, z.B. der Notwendigkeit, für eine glaubwürdige Vertretung der Kirche oder Organisation nach außen zu sorgen.
Darüber hinaus muss diese berufliche Anforderung gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 angesichts des Ethos der Kirche oder Organisation „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ sein. Auch wenn es den staatlichen Gerichten, wie oben in Rn. 61 hervorgehoben worden ist, im Regelfall nicht zusteht, über das der angeführten beruflichen Anforderung zugrunde liegende Ethos als solches zu befinden, obliegt es ihnen jedoch, festzustellen, ob diese drei Kriterien in Anbetracht des betreffenden Ethos im Einzelfall erfüllt sind.
Hinsichtlich dieser Kriterien ist erstens festzustellen, dass die Verwendung des Adjektivs „wesentlich“ bedeutet, dass nach dem Willen des Unionsgesetzgebers die Zugehörigkeit zu der Religion bzw. das Bekenntnis zu der Weltanschauung, auf der das Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation beruht, aufgrund der Bedeutung der betreffenden beruflichen Tätigkeit für die Bekundung dieses Ethos oder die Ausübung des Rechts dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie notwendig erscheinen muss.
Zweitens zeigt die Verwendung des Ausdrucks „rechtmäßig“, dass der Unionsgesetzgeber sicherstellen wollte, dass die die Zugehörigkeit zu der Religion bzw. das Bekenntnis zu der Weltanschauung, auf der das Ethos der in Rede stehenden Kirche oder Organisation beruht, betreffende Anforderung nicht zur Verfolgung eines sachfremden Ziels ohne Bezug zu diesem Ethos oder zur Ausübung des Rechts dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie dient.
Drittens impliziert der Ausdruck „gerechtfertigt“ nicht nur, dass die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien durch ein innerstaatliches Gericht überprüfbar sein muss, sondern auch, dass es der Kirche oder Organisation, die diese Anforderung aufgestellt hat, obliegt, im Licht der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls darzutun, dass die geltend gemachte Gefahr einer Beeinträchtigung ihres Ethos oder ihres Rechts auf Autonomie wahrscheinlich und erheblich ist, so dass sich eine solche Anforderung tatsächlich als notwendig erweist.
Dabei muss die Anforderung, um die es in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 geht, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen. Denn auch wenn diese Vorschrift im Gegensatz zu Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nicht ausdrücklich vorsieht, dass die Anforderung „angemessen“ sein muss, bestimmt sie jedoch, dass jede Ungleichbehandlung u.a. die „allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ beachten muss. Da der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2014, Siragusa, C 206/13, EU:C:2014:126, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. Juli 2015, K und A, C 153/14, EU:C:2015:453, Rn. 51), müssen die nationalen Gerichte prüfen, ob die fragliche Anforderung angemessen ist und nicht über das zur Erreichung des angestrebten Ziels Erforderliche hinausgeht.
Demnach ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass es sich bei der dort genannten wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderung um eine Anforderung handelt, die notwendig und angesichts des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation aufgrund der Art der in Rede stehenden beruflichen Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung objektiv geboten ist und keine sachfremden Erwägungen ohne Bezug zu diesem Ethos oder dem Recht dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie umfassen darf. Die Anforderung muss mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein nationales Gericht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privatpersonen verpflichtet ist, eine nationale Rechtsvorschrift, die nicht im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 ausgelegt werden kann, unangewendet zu lassen.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es den nationalen Gerichten obliegt, unter Berücksichtigung sämtlicher nationaler Rechtsnormen und der im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden zu entscheiden, ob und inwieweit eine nationale Rechtsvorschrift wie § 9 Abs. 1 AGG im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 ausgelegt werden kann, ohne dass sie contra legem ausgelegt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2016, DI, C 441/14, EU:C:2016:278, Rn. 31 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung die Verpflichtung der nationalen Gerichte umfasst, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar ist (Urteil vom 19. April 2016, DI, C 441/14, EU:C:2016:278, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Folglich darf ein nationales Gericht nicht davon ausgehen, dass es eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen könne, nur weil sie in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2016, DI, C 441/14, EU:C:2016:278, Rn. 34).
Demnach obliegt es im vorliegenden Fall dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Vorschrift einer mit der Richtlinie 2000/78 im Einklang stehenden Auslegung zugänglich ist.
Für den Fall, dass ihm eine solche richtlinienkonforme Auslegung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Vorschrift nicht möglich sein sollte, ist zum einen klarzustellen, dass die Richtlinie 2000/78 den Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, der seinen Ursprung in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hat, nicht selbst aufstellt, sondern in diesem Bereich lediglich einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung verschiedener Formen der Diskriminierung – darunter die Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung – schaffen soll, wie aus ihrem Titel und ihrem Art. 1 hervorgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2011, Römer, C 147/08, EU:C:2011:286, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Das Verbot jeder Art von Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung hat als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts zwingenden Charakter. Dieses in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot verleiht schon für sich allein dem Einzelnen ein Recht, das er in einem Rechtsstreit, der einen vom Unionsrecht erfassten Bereich betrifft, als solches geltend machen kann (vgl., in Bezug auf das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, Urteil vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale, C 176/12, EU:C:2014:2, Rn. 47).
Art. 21 der Charta unterscheidet sich in seiner Bindungswirkung grundsätzlich nicht von den verschiedenen Bestimmungen der Gründungsverträge, die verschiedene Formen der Diskriminierung auch dann verbieten, wenn sie aus Verträgen zwischen Privatpersonen resultieren (vgl. entsprechend Urteile vom 8. April 1976, Defrenne, 43/75, EU:C:1976:56, Rn. 39, vom 6. Juni 2000, Angonese, C 281/98, EU:C:2000:296, Rn. 33 bis 36, vom 3. Oktober 2000, Ferlini, C 411/98, EU:C:2000:530, Rn. 50, und vom 11. Dezember 2007, International Transport Workers’ Federation und Finnish Seamen’s Union, C 438/05, EU:C:2007:772, Rn. 57 bis 61).
Zum anderen ist hervorzuheben, dass Art. 47 der Charta, der das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz betrifft, ebenso wie Art. 21 der Charta aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann.
Folglich wäre das nationale Gericht in dem oben in Rn. 75 genannten Fall verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus den Art. 21 und 47 der Charta erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt.
Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass sich ein Gericht in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen dazu veranlasst sehen kann, widerstreitende Grundrechte abzuwägen, die die Parteien dieses Rechtsstreits aus dem AEUVertrag oder der Charta herleiten, und dass es im Rahmen der von ihm auszuübenden Kontrolle sogar verpflichtet ist, sich zu vergewissern, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird. Eine solche Verpflichtung zur Herstellung eines Ausgleichs zwischen den verschiedenen beteiligten Interessen beeinträchtigt nämlich keineswegs die Möglichkeit, die fraglichen Rechte in einem derartigen Rechtsstreit geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Juni 2003, Schmidberger, C 112/00, EU:C:2003:333, Rn. 77 bis 80, sowie vom 11. Dezember 2007, International Transport Workers’ Federation und Finnish Seamen’s Union, C 438/05, EU:C:2007:772, Rn. 85 bis 89).
Im Übrigen obliegt es dem nationalen Gericht, wenn es über die Beachtung der Art. 21 und 47 der Charta zu wachen hat, bei der etwaigen Abwägung mehrerer beteiligter Interessen – wie etwa der in Art. 17 AEUV verankerten Achtung des Status der Kirchen – insbesondere den durch den Unionsgesetzgeber in der Richtlinie 2000/78 geschaffenen Ausgleich zwischen diesen Interessen zu berücksichtigen, um zu klären, welche Verpflichtungen sich unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens aus der Charta ergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2005, Mangold, C 144/04, EU:C:2005:709, Rn. 76, und Beschluss vom 23. April 2015, Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, C 35/15 P[R], EU:C:2015:275, Rn. 31).
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass ein mit einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen befasstes nationales Gericht, wenn es ihm nicht möglich ist, das einschlägige nationale Recht im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 auszulegen, verpflichtet ist, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus den Art. 21 und 47 der Charta erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt.