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Kurzbeitrag : Güterabwägung im automatisierten Verfahren? : aus der RDV 6/2016, Seite 323 bis 326

Lesezeit 9 Min.

Bekanntlich müssen die Regelungen der EU-Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) gem. dessen Art. 99 Abs. 2 ab dem 25.5.2018 eingehalten werden. Da die DS-GVO genau wie die durch sie abgelöste Datenschutzrichtlinie 95/46 (DSRL) und das darauf basierende noch geltende BDSG als Verbotsgesetz ausgestaltet ist[1] , bedürfen Datenverarbeitungsvorgängen entweder der Zustimmung des Betroffenen oder einer Erlaubnisnorm. Die in Art. 6 Abs. 1 S. 1 DS-GVO genannten Erlaubnistatbestände entsprechen im Wesentlichen denen des Art. 7 lit a bis f DSRL und sind sehr allgemein gehaltene Generalklauseln. Detaillierte und konkret ausformulierte Erlaubnistatbestände wie etwa §§ 28a, 28b und 29 BDSG, die entscheidend die Basis für die Arbeit von Wirtschaftsauskunfteien und Inkassounternehmen bilden, sucht man in der DS-GVO vergeblich. Der Versuch, diese bewährten Regelungen über die Öffnungsklausel in ein Nachfolgegesetz zum BDSG zu retten, ist derzeit gescheitert. Der Referentenentwurf zum ABDSG, der in § 38 die bisherigen Regelungen zu §§ 28a; 28b; 29 BDSG enthielt, wurde vorerst gestoppt[2]. Die insoweit nur noch in Frage kommende gesetzliche Ermächtigung kann nun in Art. 6 Abs. 1 lit. f gesehen werden, einer Generalklausel mit durchzuführender Güterabwägung, wonach eine Datenverarbeitung dann rechtmäßig ist, wenn sie „zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich“ ist und „nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen.“ Da in der endgültigen Fassung der DS-GVO im Gegensatz zu der Kommissionsfassung[3] Drittinteressen wieder enthalten sind und berücksichtigt werden, ist die verfassungsrechtlich nach Art. 12 und 14 GG geschützte und als unabdingbar für volks- und betriebswirtschaftliche Betrachtungen eingestufte[4] Arbeit von Auskunfteien und Inkassounternehmen überhaupt noch möglich. Datenverarbeitende Unternehmen sehen sich aber nun angesichts dieser Situation der bisherigen Rechtssicherheit beraubt. Der zuweilen zu hörende Rat, man könne sich ja an diese Regeln auch unter Geltung der DS-GVO halten und somit die erforderliche Güterabwägung vornehmen, erscheint wenig hilfreich. Zwar sind die §§ 28a und b BDSG vom bundesdeutschen Gesetzgeber 2009 im Rahmen der BDSG-Novelle I auf Basis und in Kenntnis der bis dahin relativ unterschiedlichen Handhabung zur Schaffung von Rechtssicherheit eingeführt worden[5], im Rahmen der DS-GVO ist jedoch nicht der bundesdeutsche Horizont bzw. dessen Auslegung der Norm maßgeblich, sondern ein einheitlicher europäischer Maßstab, den es noch nicht gibt und der sich erst durch entsprechende Rechtsanwendung und Rechtsprechung entwickeln muss. Zu dieser unsicheren Lage[6] kommt das Problem, dass § 28a BDSG keine durchzuführende Güterabwägung anordnet, sondern vielmehr in seinen Voraussetzungen eine antizipierte Güterabwägung bereits beinhaltet[7], während die verbleibende Grundlage des Art. 6 Abs. 1 lit f DS-GVO die Durchführung einer Güterabwägung für jede Datenverarbeitung erfordert. Einmeldungen von Inkassounternehmen an Auskunfteien laufen wie fast alle Datenverarbeitungsvorgänge bei diesen Unternehmen weitestgehend automatisiert ab, eine Tatsache, der der BDSG-Gesetzgeber etwa in §§ 10 Abs. 1; 29 Abs. 2 S 4 BDSG Rechnung getragen hat. Da sich diese Automatik bei der Vielzahl der einzumeldenden Verfahren kaum wieder in ein manuelles Prüfungsverfahren zurückentwickeln lässt, stellt sich die hier beleuchtete Frage, ob sich eine in Zukunft möglicherweise durchzuführende Güterabwägung automatisieren lässt.

1. Was ist mit einer Güterabwägung gemeint?

Stehen sich zwei Rechte unvereinbar gegenüber, muss ermittelt (abgewogen) werden, welches der Rechte überwiegt. Bei der Frage, ob die Einmeldung einer unbezahlten Forderung in den Datenbestand einer Auskunftei auf Basis von Art. 6 Abs. 1 lit. f DS-GVO eingemeldet werden darf, stehen sich die Rechte der Auskunftei und deren Kunden (kreditgebende Wirtschaftsunternehmen) auf Absicherung und bessere Durchsetzung von Forderungen den Interessen des Schuldners als Betroffener auf Nichtübermittlung dieser negativen Zahlungserfahrung gegenüber.

2. Wann können die Rechte des Betroffenen den Interessen der Wirtschafts unternehmen an entsprechender Warnung vorgehen?

a. Lediglich vergessene Rechnungen

Auskunfteien sammeln bonitätsrelevante Daten, um diese ihren Kunden zur Beurteilung der Kreditwürdigkeit des Betroffenen zur Verfügung zu stellen[8]. Liegt tatsächlich Zahlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit vor, ist kaum ein Argument denkbar, weshalb die Interessen des Betroffenen am Ausschluss der Datenübermittlung die Interessen der kreditgebenden Wirtschaftsunternehmen überwiegen könnten. Aus diesem Gesichtspunkt ist vor einer Einmeldung von Zahlungserfahrungen auszuschließen, dass der Betroffene lediglich vergessen hat, eine Rechnungen zu bezahlen oder von einer unberechtigten Forderung ausgeht.

b. Warnung des Betroffenen

Aus Gründen der Transparenz und als Warnfunktion sollte der Betroffene über die Konsequenzen seines nicht vertragsgemäßen Verhaltens, sprich Nichtbezahlung fälliger Zahlungsansprüche, informiert werden, zumindest wenn keine staatliche Stelle, wie etwa ein Zivilgericht, beteiligt ist, das der Betroffene eher als Autorität mit möglichen Konsequenzen begreifen wird als ein mahnendes Unternehmen oder ein Inkassobüro. Ohne diese Information und die damit verbundene Chance, sich informiert und in Kenntnis der Konsequenzen seines Handelns entscheiden zu können, kann eine Güterabwägung nicht zu Lasten des Betroffenen gehen, wenn sich das Verfahren nicht vor staatlichen Stellen abspielt. Deshalb muss es einem Betroffenen vor einer Einmeldung zumindest ermöglicht werden, die Konsequenzen seines Handelns zur Kenntnis zu nehmen.

c. Berücksichtigung von Bagatellforderungen

Bei der vorzunehmenden Güterabwägung könnte für den Betroffenen sprechen, dass die unbezahlte Forderung gering ist, obgleich § 28a BDSG keine Bagatellgrenze beinhaltet. Abgesehen davon, dass auch und vielleicht sogar gerade kleine und kleinste unbezahlte Forderungen Indizien dafür sein können, dass der Betroffene auch größere Forderungen erst recht nicht bezahlen kann oder (noch bedeutsamer) will, ließe sich eine wie auch immer geartete Bagatellgrenze vor der Einmeldung berücksichtigen.

d. Berücksichtigung der Sondersituation

„Zugang zum Wohnungsmarkt“ Ebenso ohne Entsprechung in § 28a BDSG könnten besondere Situationen des Betroffenen zu berücksichtigen sein, etwa der Zugang zu existenziell wichtigen und limitierten Gütern wie beispielsweise Wohnraum, wie dies in einem Beschluss des Düsseldorfer Kreises gefordert wird[9]. Wollte oder sollte man solche Erwägungen berücksichtigen, die letztlich keine Gesetzeskraft haben, ließe sich das zwar nicht bei der Einmeldung selbst, aber bei der späteren Beauskunftung durch die Auskunftei über den gem. § 29 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BDSG anzugebenden und gem. § 29 Abs. 2 S. 3 BDSG aufzuzeichnenden Grund für das berechtigte Interesse berücksichtigen, was dem besagten Beschluss des Düsseldorfer Kreises entspräche.

3. Sind diese denkbaren Fälle in den Voraussetzungen von § 28a BDSG abgebildet?

a. § 28a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BDSG:

Hiernach können rechtskräftige oder für vorläufig vollstreckbar erklärte Urteile bzw. weitere vollstreckbare Titel i.S.d. § 794 ZPO an Auskunfteien übermittelt werden. In diesen Konstellationen erhält der Schuldner und spätere Betroffene die Möglichkeit rechtlichen Gehörs gem. Art. 130 Abs. 1 GG und deren spezialgesetzlichen Ausprägungen wie etwa § 156 Abs. 1 und 2. Nr. 1 ZPO. Damit hatte der Schuldner im Verfahren Gelegenheit, Vergessenes nachzuholen bzw. sich gegen unberechtigte Forderungen zu verteidigen. Dass ein Urteil von einem ordentlichen Gericht Konsequenzen nach sich ziehen kann, bedarf wohl keiner besonderen Information des Schuldners.

b. § 28a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BDSG:

Eine nach § 178 InsO festgestellte und nicht zum Prüfungstermin bestrittene Forderung kann nach dieser Variante bei Auskunfteien eingemeldet werden. Bei derartigen Verfahren ist das Insolvenzgericht beteiligt. Eine gesonderte Warnung des Schuldners vor Konsequenzen ist somit auch hier entbehrlich. Auch hat der Betroffene es durch Bestreiten in der eigenen Hand, eine Übermittlung letztlich zu verhindern.

c. § 28a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BDSG:

Nach dieser Übermittlungserlaubnis kann die Einmeldung einer Forderung nach einem ausdrücklichen Anerkenntnis des Schuldners erfolgen. Es ist somit die aktive Mitwirkung durch den Betroffenen nötig, die gerade zeigt, dass er die zugrundeliegende Forderung als rechtmäßig und auch hinsichtlich der damit verbundenen Folgen akzeptiert. Auch hier hat es der Betroffene selbst in der Hand.

d. § 28a Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BDSG:

Dieser Erlaubnistatbestand kommt zwar ohne staatliche Beteiligung, dafür aber mit mehreren zu erfüllenden Tatbestandsmerkmalen aus: Mit zwei schriftlichen Mahnungen und Hinweis auf die drohende Übermittlung an eine oder mehrere Auskunfteien mit mindestens vier Wochen Zeit, die Einmeldung noch zu verhindern – sei es durch vertragskonforme Bezahlung oder durch Bestreiten der Forderung zwecks gerichtlicher Klärung – sind dem Betroffenen genügend Abwehrmöglichkeiten an die Hand gegeben.

e. § 28a Abs. 1 S. 1 Nr. 5 BDSG:

Wenn die Voraussetzungen einer fristlosen Kündigung des zugrundeliegenden Vertragsverhältnisses und die vorherige Unterrichtung des Betroffenen über die folgende Übermittlung vorliegen, erlaubt diese Alternative eine Übermittlung an Auskunfteien. Da die fristlose Kündigung eines Vertragsverhältnisse stets besondere, in der Sphäre des zu kündigen Teils liegende Umstände verlangt, die ein Festhalten am Vertrag für die andere Vertragspartei als unzumutbar erscheinen lässt und eine Unterrichtung des Betroffenen erfolgen muss, hat es auch hier der Betroffene selbst genügend in der Hand.

f. Außergerichtliche Beschränkungen

Soweit außerhalb des Gesetzes liegende zusätzliche Voraussetzungen zu beachten sein sollten, wie etwa die angesprochenen Beschränkungen beim Zugang zum Wohnungsmarkt oder die Berücksichtigung von Bagatellgrenzen, wären diese bei allen zuvor genannte Einmeldeerlaubnisvarianten zusätzlich zu berücksichtigen, auch um die insgesamt in den Varianten antizipierte Güterabwägung positiv im Sinne einer Einmeldung vornehmen zu können.

4. Lassen sich diese Kriterien automatisiert prüfen?

Das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 28a BDSG wie etwa das Vorliegen eines Titels, eines Anerkenntnisses, der Unterrichtung des Betroffenen, sowie die Merkmale des § 28a Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BDSG mit seinen zeitlichen Voraussetzungen lassen sich zweifellos EDV-mäßig erfassen. Auch die Einhaltung einer eventuellen Bagatellgrenze ist keine Herausforderung für eine automatische Verarbeitung. Beschränkungen auf Seiten der Auskunfteikunden, wie bei Vermietern zur Einhaltung der Restriktionen des Düsseldorfer Kreises, können ohnehin nur beim Abruf erfolgen.

Lassen sich aber alle zu berücksichtigen Merkmale mittels automatisierter Verfahren erfassen, können diese auch dergestalt ausgewertet werden, dass eine Güterabwägung nach zuvor definierten Kriterien automatisiert erfolgen kann.

Eine Güterabwägung ist nach der Definition in Ethik und Recht rational und vernünftig durchzuführen[10]; dies lässt sich auch in Computerprogrammen abbilden. Es geht bei der Güterabwägung weder um „Gefühle“ oder „Menschlichkeit“, die nicht in EDV-Programmen abbildbar sind. Eine Forderung nach einer „Entscheidung durch eine natürliche Person“ wie etwa in § 6a Abs. 1 S. 2 BDSG negativ formuliert, ist weder in § 28a BDSG, noch in der DS-GVO enthalten und auch nicht erforderlich. Es würde auch der Forderung von Viviane Reding, einer der Initiatoren der DS-GVO, widersprechen, die diese explizit als „zukunftssicher“ bezeichnet hat[11], was einen Rückfall in manuelle Auswertungen sicher nicht meint.

5. Fazit

Evtl. unter Geltung der DS-GVO erforderliche Güterabwägungen im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 lit. f EU-DS-GVO zur Übermittlung von Zahlungserfahrungen an Auskunfteien können problemlos automatisiert erfolgen.

* Der Autor ist Rechtsanwalt und Syndikusrechtsanwalt in einer Wirtschaftsauskunftei.

[1] Härting, in: Datenschutzgrundverordnung, Rn. 318; Raab, in: Die Harmonisierung des einfachgesetzlichen Datenschutzes, S. 165, 218; Eckhardt, CR 2012, 195 (197); Kranig, in: Ehman ZD 2015, 6 (11); Hornung, ZD 2012, 99 (101).

[2] Siehe: http://www.lto.de/recht/presseschau/p/presseschau13-09-2016-jutta-limbach-djt-neubrandenburg/, abgerufen am 17.10.2016 und http://community.beck.de/2016/09/12/der-entwurf-zum-datenschutz-anpassungsgesetz, abgerufen am 17.10.2016.

[3] Vorschlag der Europäischen Kommission vom 25. Januar 2012 (KOM (2012) 11 endgültig 2012/0011 (COD)).

[4] Täger, in: Scoring in Deutschland nach der EU-Datenschutzgrundverordnung, ZRP 2016, 72 (73); BGH NJW 2011, 2204 (2206).

[5] BT-Drs. 16/10529, 14.

[6] Täger, a.a.O. S. 75.

[7] Ehmann, in: Simitis, BDSG § 28a Rn. 2; Kamp, in: Beck‘scher OnlineKommentar Datenschutzrecht, § 28a BDSG, Rn. 65; BT-Drs. 16/10529, 14.

[8] Simitis, BDSG § 29 Rn. 83f.; BT-Drs. 16/10529, 9.

[9] Beschluss der obersten Aufsichtsbehörden für den Datenschutz im nicht-öffentlichen Bereich vom 22.10.2009, Bonitätsauskünfte über Mietinteressenten nur eingeschränkt zulässig.

[10] Forschner, in: Höffe (Hrsg.) Lexikon der Ethik – Güter.

[11] Reding, in: Sieben Grundbausteine der europäischen Datenschutzreform, ZD 2012, 195 (198).